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Das Werk - 14

Das Werk - 14

Titel: Das Werk - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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seinem Lehnsessel gefallen war wie ein Klotz, waren ihre Mutter und sie in der Kirche gewesen. Sie entsann sich noch genau ihrer Rückkehr, dann der gräßlichen Nacht, des sehr dicken und kräftigen Hauptmanns, der ausgestreckt auf einer Matratze lag und dessen Unterkiefer so sehr vorstand, daß sie ihn in ihrer Kleinmädchenerinnerung nicht anders sehen konnte. Aber sie hatte diesen Unterkiefer, ihre Mutter pflegte sie, wenn sie nicht wußte, wie sie sie bändigen sollte, anzuschreien: »Ach, du mit deinem Pferdekinn, dir wird’s das Blut verschlagen wie deinem Vater!« Arme Mutter! Die Kleine hatte sie ganz benommen gemacht mit ihren wilden Spielen, ihrem tollen Herumgetobe! Soweit sie sich zurückentsinnen konnte, sah sie ihre Mutter vor demselben Fenster, eine kleine schmächtige Frau, die lautlos ihre Fächer malte und sanfte Augen hatte – diese Augen, das war alles, was sie heute noch von ihr hatte. Um ihrer Mutter eine Freude zu machen, sagten die Leute manchmal zu der lieben Frau: »Die Kleine hat Ihre Augen.« Und sie lächelte dann, war glücklich, wenigstens durch dieses Fleckchen Sanftmut im Gesicht ihrer Tochter weiterzuleben. Seit dem Tode ihres Mannes arbeitete sie bis tief in die Nacht, so daß ihr Augenlicht nachließ. Wovon sollten sie leben? Die Witwenpension, die sechshundert Francs, die sie im Jahr bekam, reichten kaum für die Bedürfnisse des Kindes. Fünf Jahre lang hatte Christine gesehen, wie ihre Mutter immer blasser und magerer und von Tag zu Tag weniger wurde, bis von ihr nur noch ein Schatten blieb; und Christine wurde die Gewissensbisse nicht los, daß sie nicht sehr artig gewesen war, daß sie sie mit ihrem mangelnden Arbeitseifer zur Verzweiflung gebracht, obwohl sie jede Woche wieder mit schönen Vorsätzen begonnen und geschworen hatte, ihr bald beim Geldverdienen zu helfen; aber trotz aller Mühe, die sie sich gab, gingen ihre Beine und ihre Arme mit ihr durch, sie wurde krank, sobald sie ruhig dasaß. Da, eines Morgens hatte ihre Mutter nicht mehr aufstehen können, und sie war gestorben, ihre Stimme war erloschen, die Augen standen voll großer Tränen.. Immer hatte Christine dieses Bild vor sich: die tote Mutter, die sie mit großen offenen und noch weinenden Augen anstarrte.
    Andere Male vergaß Christine, wenn Claude sie nach Clermont fragte, diese ganze Trauer und gab die heiteren Erinnerungen zum besten. Sie lachte aus vollem Halse über ihre Behausung in der Rue de l’Eclache, sie war in Straßburg geboren, der Vater Gascogner, die Mutter Pariserin, und alle drei in diese Auvergne55 verschlagen, die sie nicht ausstehen konnten. Die Rue de l’Eclache, die bis zum Botanischen Garten hinabreichte, war eng und feucht und hatte die Melancholie eines Grabgewölbes; nicht ein Laden, niemals kam jemand vorbei, nichts als düstere Fassaden mit stets geschlossenen Fensterläden; aber nach Süden zu genossen die Fenster ihrer Wohnung, die auf die Innenhöfe herabschauten, die Freude der hellen Sonne. Sogar das Eßzimmer hatte einen breiten Balkon, eine Art Holzgalerie, deren Bögen eine riesige Glyzinie unter ihrem Grün vergrub. Und sie war dort groß geworden, zuerst in der Nähe ihres siechen Vaters, dann wie in einem Kloster eingesperrt mit ihrer Mutter, die beim kleinsten Ausgang erschöpft war; sie kannte rein gar nichts von der Stadt und der Umgebung, und Claude mußte schließlich lachen, weil sie seine Fragen mit einem ewigen »Ich weiß nicht« aufnahm. Die Berge? Ja, in einer Richtung lagen Berge, man konnte sie am Ende der Straßen sehen. Während man auf der anderen Seite beim Einbiegen in andere Straßen flache Felder sah, so weit das Auge reichte; aber sie gingen nicht dorthin, das war viel zu weit. Sie erkannte lediglich den Puy de Dôme56, der ganz rund war wie ein Buckel. In der Stadt hätte sie mit geschlossenen Augen in die Kathedrale gehen können: man ging rund um den Place de Jaude, man ging die Rue des Gras entlang; und mehr durfte man sie nicht fragen, bei allem übrigen verhedderte sie sich; Gassen und abschüssige Boulevards, eine Altstadt aus schwarzer Lava, die zu Tal floß, wo sich die Gewitterregen dahinwälzten wie Ströme unter furchtbarem Donnerkrachen. Oh, die Gewitter dort unten, ihr schauderte noch davor! Vor ihrem Zimmer, über den Dächern, stand der Blitzableiter des Museums stets in Feuer. Sie hatte im Eßzimmer, das auch als Wohnzimmer diente, ein Fenster für sich, eine tiefe Nische, so groß wie eine Stube, in der ihr Arbeitstisch und

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