Das Werk - 14
ihre kleinen Sachen standen. Dort hatte ihre Mutter sie lesen gelehrt; dort war sie später, während sie ihren Lehrern zuhörte, eingeschlummert, so benommen machten sie die ermüdenden Unterrichtsstunden. Jetzt spottete sie über ihre Unwissenheit: Ach ja, ein sehr gebildetes Fräulein, das nicht einmal alle Könige von Frankreich mit den Regierungszeiten hätte hersagen können! Eine tolle Klavierspielerin, die es nicht weiter gebracht hatte als bis zum ›Schiffchen klein‹, eine großartige Aquarellistin, der die Bäume nicht gelangen, weil die Blätter zu schwer nachzumachen waren! Jäh sprang sie zu den fünfzehn Monaten über, die sie nach dem Tode ihrer Mutter bei den Nonnen von der Heimsuchung Mariens in einem großen Kloster außerhalb der Stadt mit wunderbaren Gärten verbracht hatte; und die Geschichten über die guten Schwestern nahmen kein Ende mehr, eine Unmenge unentwirrbarer Eifersüchteleien, Albernheiten, Einfältigkeiten. Sie sollte in den Orden eintreten, obwohl sie in der Kirche keine Luft bekam. Alles schien nun auszusein, da hatte ihr die Oberin, die sie sehr gern mochte, selber vom Kloster abgeraten und ihr diese Stellung bei Frau Vanzade verschafft. Sie wunderte sich jetzt noch darüber, wie die ehrwürdige Mutter so klar in ihr hatte lesen können. Denn seitdem sie in Paris wohnte, war sie tatsächlich in völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Religion verfallen.
Als dann die Erinnerungen an Clermont erschöpft waren, wollte Claude wissen, wie sie bei Frau Vanzade lebe; und jede Woche berichtete sie ihm neue Einzelheiten. In dem kleinen, vornehmen Haus in Passy, das still und abgeschlossen dalag, verlief das Dasein regelmäßig und mit dem schwächer gewordenen Ticktack alter Wanduhren. Einzig zwei uralte Dienstboten, eine Köchin und ein Kammerdiener, die seit vierzig Jahren in der Familie waren, gingen in ihren Pantoffeln geräuschlos, wie mit Geisterschritt, durch die leeren Räume. Mitunter kam dann und wann ein Besuch, irgendein General in den Achtzigern, der so ausgetrocknet war, daß sein Fuß kaum die Haare des Teppichs niederdrückte. Das war das Haus der Schatten; die Sonne, die durch die Brettchen der Sommerläden drang, erstarb darin zu einem Nachtlampenschein. Seitdem die gnädige Frau Reißen in den Knien hatte und blind geworden war, verließ sie ihr Zimmer nicht mehr, ihre einzige Zerstreuung bestand darin, sich unaufhörlich fromme Bücher vorlesen zu lassen. Ach, dieses endlose Vorlesen, was für eine Last für das junge Mädchen! Wenn sie einen Beruf erlernt hätte, mit welcher Freude hätte sie Kleider zugeschnitten, Hüte garniert, Blumenstengel gemodelt! Wenn man bedachte, daß sie rein gar nichts konnte, daß sie zwar alles gelernt hatte, aber zu weiter nichts taugte als zu einem Mädchen, das in Stellung ging und halb ein Dienstmädchen war! Und außerdem litt sie unter diesem abgeschlossenen, steifen Haus, das nach Sterben roch; sie wurde wieder ganz benommen, wie einst in ihrer Kindheit, als sie sich zur Arbeit zwingen wollte, um ihrer Mutter Freude zu bereiten; ein Aufbegehren ihres Blutes putschte sie auf, am liebsten hätte sie geschrien und wäre herumgesprungen, berauscht von Lebensverlangen. Aber die gnädige Frau behandelte sie so sanft, schickte sie auf ihr Zimmer zurück, gebot ihr, lange Spaziergänge zu machen, so daß sie Gewissensbisse hatte, wenn sie bei der Rückkehr vom Quai de Bourbon schwindeln, vom Bois de Boulogne sprechen, eine Zeremonie in der Kirche, in die sie in Wahrheit nie einen Fuß setzte, erfinden müßte. Mit jedem Tag schien die gnädige Frau größere Zuneigung für sie zu empfinden; unaufhörlich bekam sie Geschenke, ein Seidenkleid, eine altertümliche kleine Uhr, ja sogar Wäsche; und sie selber mochte die gnädige Frau gern, sie hatte geweint, als diese sie eines Abends ihre Tochter nannte, sie schwor, sie nun niemals mehr Zu verlassen, und ihr Herz wurde geradezu ertränkt von Mitleid, wenn sie sie so alt und so gebrechlich sah.
»Ach was!« sagte Claude eines Morgens. »Sie werden dafür belohnt werden. Sie wird sie zu ihrer Erbin machen.«
Christine war ganz betroffen.
»Oh, meinen Sie? – Es heißt, sie hat ein Vermögen von drei Millionen … Nein, nein, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich möchte das nicht. Was sollte denn dann mit mir werden?«
Claude hatte sich abgewandt, und er fügte mit schroffer Stimme hinzu:
»Sie würden reich werden, natürlich! – Zunächst würde sie Sie sicher erst mal
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