Das Werk - 14
Tag verstrich, bekam er einen Anfall von Arbeitswut, war unzugänglich für jedermann und in seinen Theorien so gewalttätig, daß nicht einmal seine Freunde ihn zu ärgern wagten. Er fegte die Welt mit einer Handbewegung weg, es gab nur noch die Malerei, sollte man doch der Verwandtschaft, den Kumpels, vor allem den Weibern die Kehle durchschneiden! Nach diesem heißen Fieber war er in eine gräßliche Verzweiflung verfallen, erlebte eine Woche der Unfähigkeit und des Zweifels, eine ganze Woche der Qual, so daß er glaubte, mit Blödheit geschlagen zu sein. Und er faßte sich wieder, er hatte seinen üblichen Trott, sein schicksalergebenes, einsames Ringen mit seinem Bild gerade wieder aufgenommen, als er gegen Ende Oktober an einem nebligen Vormittag zusammenfuhr und rasch seine Palette absetzte. Es hatte nicht geklopft, aber er hatte soeben einen Schritt, der die Treppe heraufkam, wiedererkannt. Er öffnete, und sie trat ein.
Endlich kam sie.
Christine trug an diesem Tag einen weiten grauen Wollmantel, der sie ganz und gar einhüllte. Ihr Samthütchen war dunkel, und der Nebel draußen hatte ihren schwarzen Gesichtschleier mit Perlen besetzt. Aber er fand sie sehr aufgeräumt bei diesem ersten Frösteln des Winters. Sie entschuldigte sich, daß sie sich mit dem Wiederkommen so lange Zeit gelassen habe; und sie lächelte in ihrer offenen Art, sie gab zu, sie sei unschlüssig gewesen, sie habe beinahe nicht mehr gewollt: ja, das seien so ihre Ideen, Dinge, die er eben verstehen müsse.
Er verstand nicht, er wollte auch gar nicht verstehen, denn sie war ja da. Es genügte, daß sie nicht verärgert war, daß sie einwilligte, so von Zeit zu Zeit heraufzukommen, wie ein guter Kumpel.
Es gab keine Erklärung, jeder behielt die Qual und den Kampf der vergangenen Tage für sich. Fast eine Stunde lang plauderten sie sehr einträchtig, ohne daß hinfort noch irgend etwas verborgen oder feindselig blieb zwischen beiden, als habe sich zwischen ihnen unbewußt das Einverständnis hergestellt, während sie einander fern waren.
Sie schien nicht einmal die Skizzen und die Studien an den Wänden zu sehen. Einen Augenblick starrte sie auf das große Gemälde, auf das Gesicht der nackten Frau, die unter dem flammenden Gold der Sonne im Grase lag. Das, das war sie nicht, dieses Mädchen hatte weder ihr Gesicht noch ihren Leib: wie hatte sie sich in diesem entsetzlichen Farbenschlamassel nur wiedererkennen können? Und in ihrer Freundschaft empfand sie leises Mitleid mit diesem braven Burschen, der nicht einmal ähnlich malte. Beim Weggehen streckte sie ihm auf der Schwelle herzlich die Hand hin.
»Sie wissen ja, ich komme wieder.«
»Ja, in zwei Monaten.«
»Nein, nächste Woche … Sie werden ja sehen, Donnerstag.«
Am Donnerstag erschien sie sehr pünktlich wieder. Und von da an kam sie nun stets einmal in der Woche, zunächst ohne regelmäßige Verabredung, wie ihre freien Tage gerade fielen; dann wählte sie den Montag, weil Frau Vanzade ihr diesen Tag gewährt hatte, damit sie Spazierengehen und draußen im Bois de Boulogne54 Luft schöpfen konnte. Sie mußte um elf Uhr wieder zu Hause sein, sie lief zu Fuß, sie kam ganz rosig an, weil sie gerannt war, denn es war eine gehörige Strecke von Passy zum Quai de Bourbon. Vier Wintermonate lang, von Oktober bis Februar, kam sie so, bei prasselndem Regen, bei Nebel über der Seine, bei blassem Sonnenschein, der die Quais leicht erwärmte. Schon vom zweiten Monat an kam sie mitunter sogar unverhofft an einem anderen Tag in der Woche, indem sie sich eine Besorgung in Paris zunutze machte, um heraufzukommen; und sie konnte nicht länger als zwei Minuten bleiben, man hatte gerade Zeit, einander guten Tag zu sagen; und schon ging sie die Treppe wieder hinunter und rief: »Auf Wiedersehen!«
Nun begann Claude Christine kennenzulernen. Bei seinem ewigen Mißtrauen gegen das Weib hegte er immer noch einen Argwohn, den Gedanken an ein galantes Abenteuer in der Provinz; aber die sanften Augen, das helle Lachen des jungen Mädchens hatten das alles getilgt, er spürte, daß sie unschuldig war wie ein großes Kind. Sobald sie sich ohne die geringste Verlegenheit, unbefangen wie bei einem Freund, einstellte, schwatzte sie los, mit einem nie versiegenden Wortschwall. Zwanzigmal hatte sie ihm ihre Kindheit in Clermont erzählt, und sie kam immer wieder darauf zurück. An dem Abend, da ihr Vater, der Hauptmann Hallegrain, seinen letzten Anfall gehabt hatte und wie vom Blitz getroffen von
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