Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Seite an Seite mit den Kindern der Harringtons lernen meine Kinder lesen und rechnen. Immer wieder essen sie abends mit uns an einem Tisch. Wir verzehren dieselben Speisen wie sie, und wir kleiden uns wie sie. Wenn es bei den Harringtons im Winter nicht zum Heizen reicht, verzichten auch wir darauf. Was uns wärmt, ist der Gedanke, uns nicht schämen zu müssen, und das Wissen, dass Christus dasselbe getan hätte. Sonntags besuchen wir dieselben Gottesdienste wie die Harringtons – in ihrer einfachen schwarzen Methodisten-Kirche. Ihre Kirche verfügt über keinerlei Annehmlichkeiten – warum sollte es bei uns anders sein? Ihren Kindern fehlt es mitunter an Schuhwerk – warum sollten es unsere Kinder anders haben?«
Damit war Prudence zu weit gegangen.
In den folgenden Tagen wurde die Zeitung mit zornigen Reaktionen auf Prudence’ Äußerungen überschüttet. Einige dieser Briefe stammten von entsetzten Müttern (»Henry Whittakers Tochter lässt ihre Kinder barfuß herumlaufen!«), die meisten jedoch von erzürnten Männern (»Wenn Mrs Dixon die Schwarzafrikaner so liebt, soll sie doch die bezauberndste ihrer weißen Töchter mit dem tintenschwärzesten Sohn ihrer Nachbarn vermählen – ich brenne darauf, das zu sehen!«).
Auch Alma empfand den Artikel als ärgerlich, ob sie wollte oder nicht. Die ganze Lebensweise ihrer Schwester nährte den Verdacht, dass Prudence eine gewisse Überheblichkeit, wenn nicht gar Eitelkeit in sich trug. Natürlich konnte man Prudence nicht die Eitelkeit einer Normalsterblichen nachsagen: Alma hatte ihre Schwester noch nie dabei ertappt, dass sie auch nur einen Blick in den Spiegel warf. Und doch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass Prudence mit ihrer demonstrativen Enthaltsamkeit auf andere, subtilere Weise nicht minder selbstgefällig war.
Seht doch, wie wenig ich brauche!, schien Prudence sagen zu wollen. Seht doch, wie gütig ich bin!
Darüber hinaus fragte sich Alma, ob Prudence’ schwarze Nachbarn, diese Harringtons, nicht den Wunsch verspürten, abends auch einmal mehr als nur Maisbrot und Molassesirup zu essen – warum konnten ihnen die Dixons dies nicht ermöglichen, anstatt selbst zu hungern und die Solidarität zu einer hohlen Geste verkommen zu lassen?
Die Veröffentlichung des Artikels brachte denn auch einige Unannehmlichkeiten. Bald gab es erste Drohungen und Angriffe gegen die Harringtons, die in einer Weise drangsaliert wurden, dass sie sich letztlich zum Umzug genötigt sahen. Dann wurde Arthur auf dem Weg zu seiner Arbeit an der Universität von Pennsylvania mit Pferdemist beworfen. Mütter verboten ihrem Nachwuchs jeglichen Umgang mit den Dixon-Kindern. An die Gartenpforte der Dixons wurden Baumwollstreifen aus South Carolina geklebt, und vor ihrer Haustür türmten sich ein ums andere Mal kleine Zuckerhäufchen; all dies waren seltsame und auf ihre Weise durchaus erfinderische Warnungen. Und dann, eines Tages in der Mitte des Jahres1838 , fand Henry Whittaker einen anonymen Brief in seiner Post, in dem es hieß: »Sie sollten Ihrer Tochter lieber das Maul stopfen, Mr Whittaker, sonst können Sie bald zusehen, wie Ihre Lagerhallen in Flammen aufgehen.«
Nun, so etwas konnte Henry nicht dulden. Es war schon schimpflich genug, dass seine Tochter die großzügige Mitgift verschleudert hatte, doch jetzt waren seine Wirtschaftsgebäude in Gefahr. Er zitierte Prudence nach White Acre, um ihr, wie er dachte, ein wenig Vernunft beizubringen.
»Sei behutsam mit ihr, Vater«, mahnte ihn Alma im Voraus. »Prudence ist gewiss erschüttert und verängstigt. Die Geschehnisse der letzten Wochen werden ihr zugesetzt haben, und wahrscheinlich macht sie sich mehr Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder als du um die Sicherheit deiner Lagerhallen.«
»Das bezweifle ich«, knurrte Henry böse.
Tatsächlich wirkte Prudence weder verängstigt noch in irgendeiner Weise bestürzt. Vielmehr marschierte sie wie eine pennsylvanische Jeanne d’Arc mit langen Schritten in Henrys Arbeitszimmer und baute sich unerschrocken vor ihrem Vater auf. Alma versuchte es mit einer freundlichen Begrüßung, doch Prudence zeigte kein Interesse an solcherlei Artigkeiten. Dasselbe galt für Henry. Ungestüm eröffnete er das Scharmützel. »Weißt du eigentlich, was du angerichtet hast? Erst bringst du Schande über die Familie, und nun treibst du einen aufgebrachten Mob vor die Tür deines Vaters! Ist das der Dank für alles, was ich dir gegeben habe?«
»Ich sehe keinen
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