Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
befasst, die Serviette auf seinem Schoß zu falten, während Ambrose Pike mit unverhohlener Belustigung zuhörte.
»Was ist also schiefgegangen, Sir?«, erkundigte er sich. »Wenn ich so neugierig fragen darf?«
Henry starrte ihn zornig an. »Die Pflanzen haben keine Früchte getragen! Die Knospen sind aufgegangen, erblüht und abgestorben – nicht eine verdammte Schote haben sie hervorgebracht!«
»Darf ich erfahren, woher die Pflanzen ursprünglich kamen?«
»Mexiko«, knurrte Henry und funkelte Mr Pike herausfordernd an. »Na los, junger Mann, Sie sind derjenige, der es mir verraten wird – was ist schiefgegangen?«
Alma fiel es wie Schuppen von den Augen. Wie hatte sie ihren Vater derart unterschätzen können? Gab es jemals etwas, das dem alten Mann entging? Trotz garstigster Laune, und obwohl er nicht nur halb taub, sondern sogar bei Tisch eingeschlafen war, hatte er begriffen, wer da plötzlich an seiner Tafel saß: ein Orchideen-Experte, der soeben einen fast zwanzigjährigen Studienaufenthalt in und um Mexiko beendet hatte. Und Vanillepflanzen gehörten, wie Alma sich nun erinnerte, zur Familie der Orchideen. Ihr Gast wurde gerade einer Prüfung unterzogen.
» Vanilla planifolia «, sagte er denn auch.
»Exakt«, bestätigte Henry und stellte sein Weinglas auf den Tisch. »Genau die haben wir in Tahiti angepflanzt. Fahren Sie fort.«
»Diese Pflanze habe ich in Mexiko vielerorts gesehen. Vor allem rund um Oaxaca. Ihr Geschäftspartner in Polynesien, dieser Franzose, hatte recht: Es handelt sich um eine robuste Kletterpflanze, und ich vermute, dass sie sich mit dem Klima im Südpazifik bestens anzufreunden vermag.«
»Und warum haben diese verdammten Pflanzen dann keine Früchte getragen?«, fragte Henry.
»Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen«, antwortete Mr Pike, »da ich die fragliche Pflanze nicht mit eigenen Augen gesehen habe.«
»Dann sind Sie wohl doch nur ein nutzloser kleiner Orchideenzeichner!«, blaffte Henry.
»Vater …«
»Immerhin, Sir«, ergriff Mr Pike, gleichgültig gegenüber Henrys Beleidigung, wieder das Wort, »könnte ich eine Theorie aufstellen. Als Ihr Franzose zur Beschaffung seiner Vanillepflanzen in Mexiko weilte, hat er vielleicht versehentlich eine Vanilla planifolia -Art erstanden, die unter den Eingeborenen oreja de burro – Eselsohr – heißt. Diese Vanilleart trägt generell keine Früchte.«
»Dann war er ein Dummkopf!«, schimpfte Henry.
»Nicht unbedingt, Mr Whittaker. Es braucht schon ein sehr geschultes Auge, um den Unterschied zwischen früchtetragenden und nicht früchtetragenden Arten der Planifolia zu erkennen. Da kommt es häufig zu Verwechslungen. Sogar den Eingeborenen unterläuft dieser Fehler. Und nur wenige Botaniker sind imstande, den Unterschied auszumachen.«
»Können Sie ihn erkennen?«, fragte Henry.
Ambrose Pike zögerte. Offensichtlich stand ihm nicht der Sinn danach, einen Mann, den er gar nicht kannte, zu diffamieren.
»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Junge. Können Sie den Unterschied zwischen den beiden Planifolia -Arten erkennen oder nicht?«
»Sie meinen, im Allgemeinen, Sir? Ja. Ich kann den Unterschied erkennen.«
»Dann war dieser Franzmann sehr wohl ein Dummkopf«, folgerte Henry. »Und der größte Dummkopf war ich selbst, dass ich ihm mein Geld anvertraut habe, denn jetzt habe ich fünfunddreißig Morgen gutes Tiefland vergeudet, indem ich dort fünfzehn Jahre lang unfruchtbare Vanillepflanzen angebaut habe! Alma, du schreibst Dick Yancey noch heute Abend einen Brief und sagst ihm, dass er alle Vanilleranken aus dem Boden reißen und an die Schweine verfüttern soll. Sag ihm, er soll stattdessen Süßkartoffeln anpflanzen. Sag ihm außerdem, wenn ihm dieses Dreckstück von Franzose jemals wieder über den Weg läuft, soll er ihn auch an die Schweine verfüttern!«
Mit diesen Worten erhob sich Henry und humpelte aus dem Zimmer, zu aufgebracht, um sein Mahl zu beenden. In stummer Verwunderung schauten ihm George und Mr Pike nach, wie er sich hinkend entfernte, erzürnt und so wunderlich in seinen alten, samtenen Kniehosen und der Perücke.
In Alma indessen stieg ein Gefühl des Triumphes hoch. Der Franzose hatte verloren, Henry Whittaker hatte verloren, und auch die Vanilleplantage in Tahiti war höchstwahrscheinlich verloren. Ambrose Pike jedoch – dessen war sie gewiss – hatte an diesem Abend, bei seinem ersten Auftritt an der Tafel von White Acre, gewonnen.
Es mochte ein kleiner Sieg sein, aber ein
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