Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
Sieg mit vielleicht unabsehbaren Folgen.
    •
    In dieser Nacht wurde Alma von seltsamen Geräuschen geweckt.
    Aus heiterem Himmel, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige versetzt, schrak sie aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. War jemand in ihrem Zimmer? Hanneke? Nein, niemand. Sie sank in die Kissen zurück. Die Nacht war friedlich und kühl. Was hatte ihren Schlummer unterbrochen? Stimmen. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich Alma an die Nacht erinnert, in der die kleine Prudence nach White Acre gekommen war, blutverschmiert und von Männern umringt. Arme Prudence. Alma sollte ihr wirklich einen Besuch abstatten. Sie sollte sich mehr um ihre Schwester bemühen. Doch ihr fehlte einfach die Zeit. Ringsum war alles still. Alma begann wieder einzudösen.
    Was war das nur für ein Geräusch? Jetzt hörte sie es wieder. Alma schlug zum zweiten Mal die Augen auf. Ja, es waren tatsächlich Stimmen. Wer mochte zu dieser Stunde noch wach sein?
    Sie stieg aus dem Bett, warf sich ihr Schultertuch über und zündete mit geübter Hand die Lampe an. Sie ging zum Treppenabsatz und schaute über das Geländer. Im Salon war Licht. Sie konnte es durch die Türritze sehen. Dann hörte sie das Lachen ihres Vaters. Wer war bei ihm? Führte er Selbstgespräche? Warum war sie nicht geweckt worden, wenn Henry sie brauchte?
    Sie tappte die Treppe hinunter und fand ihren Vater auf dem Sofa vor, neben ihm niemand anders als Ambrose Pike. Die beiden sahen sich Zeichnungen an. Henry trug ein langes weißes Nachthemd, dazu eine altmodische Schlafmütze, und er war vom Trinken erhitzt. Mr Pike war nach wie vor mit dem braunen Cordanzug bekleidet, sein Haar allerdings war noch zerzauster als einige Stunden zuvor.
    »Wir haben Sie geweckt«, entfuhr es Mr Pike, als er Alma bemerkte. »Bitte entschuldigen Sie.«
    »Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte sie.
    »Alma!«, schrie Henry. »Dein Bürschlein hier hat sich etwas Brillantes einfallen lassen! Zeigen Sie’s ihr, mein Sohn!«
    Alma erkannte, dass Henry gar nicht betrunken war. Nein, er war einfach nur enthusiastisch.
    »Ich hatte Mühe einzuschlafen, Miss Whittaker«, erklärte Ambrose Pike, »weil mir die Vanillepflanzen auf Tahiti nicht aus dem Sinn gingen. Mir fiel ein, dass es möglicherweise noch einen anderen Grund dafür gibt, dass sie keine Früchte tragen. Ich hätte bis morgen früh warten sollen, um hier im Haus niemanden zu belästigen, doch ich wollte nicht, dass mir die Idee verlorenging. So stand ich auf, kam herunter und machte mich auf die Suche nach einem Blatt Papier. Ich fürchte, dabei habe ich Ihren Vater geweckt.«
    »Hier, schau dir an, was er gemacht hat!«, brüllte Henry und drückte Alma ein Blatt in die Hand. Es war eine außergewöhnlich hübsche und detailgetreue Zeichnung einer Orchideenblüte, auf deren anatomische Besonderheiten allerlei Pfeile hinzuweisen schienen. Henry sah Alma erwartungsvoll an, während sie verständnislos auf das Blatt starrte.
    »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie. »Ich bin gerade erst wach geworden, es fehlt meinem Denken vielleicht noch an der nötigen Klarheit …«
    »Die Bestäubung, Alma!«, grölte Henry, klatschte in die Hände und bedeutete seinem Gast, ihr alles Weitere zu erklären.
    »Miss Whittaker, ich halte es – wie ich Ihrem Vater bereits erläutert habe – für möglich, dass der Franzose in Mexiko sehr wohl die richtige Vanilleart ausgewählt hat. Möglicherweise ist der Grund für die ausbleibende Fruchtbildung eher darin zu suchen, dass es an der Bestäubung hapert.«
    Auch in tiefster Nacht aus dem Schlaf gerissen, war Almas Kopf eine so beängstigend gut geölte Denk- und Rechenmaschine, dass sie förmlich hören konnte, wie die Abakusperlen der Botanik in ihrem Gehirn zu klackern begannen.
    »Welche Bestäuber hat die Gewürzvanille?«, fragte sie.
    »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen«, erwiderte Mr Pike. »Niemand weiß es genau. Es könnten Ameisen sein, Bienen oder irgendeine Schmetterlingsart. Was auch immer es ist, Ihr Franzose hat es jedenfalls nicht mit nach Tahiti genommen, und die in Französisch-Polynesien beheimateten Insekten und Vögel scheinen außerstande, die Vanilleblüten, die ja eine sehr spezifische Form haben, zu bestäuben. Mithin gibt es auch keine Früchte. Und keine Schoten.«
    Henry klatschte abermals in die Hände. »Und keinen Gewinn!«, fügte er hinzu.
    »Was können wir also tun?«, fragte Alma. »Sollen wir alle Insekten- und Vogelarten, die im

Weitere Kostenlose Bücher