Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Wahrheit ins Auge blicken, für die sie bis dahin blind gewesen war: Trotz aller Eleganz war White Acre im Laufe des vergangenen Vierteljahrhunderts immer mehr in einen Zustand der Verwahrlosung geraten.
Ausgehend von dieser Feststellung war es nur noch ein kleiner Schritt, dem Vorbild des Orchideenhauses zu folgen und auch auf dem restlichen Anwesen die alte Pracht wiederherzustellen. Wann war eigentlich in irgendeinem Gewächshaus zum letzten Mal auch nur eine Scheibe geputzt worden? Alma konnte sich nicht daran erinnern. Wo sie auch hinsah, Schimmel und Staub. Sämtliche Zäune mussten gestrichen und repariert werden, die Kiesauffahrt war von Unkraut überwuchert und die Bibliothek voller Spinnweben. Die Läufer mussten ausgeklopft und sämtliche Öfen instand gesetzt werden. Im großen Gewächshaus drohten die Palmen, die seit Jahren nicht mehr zurückgeschnitten worden waren, das Dach zu sprengen. Vertrocknete Tierknochen – Überreste jahrelanger Katzen-Raubzüge – lagen in den Ecken der Scheunen, die ehemals glänzenden Messingteile der Kutschen waren stumpf, und die Uniformkleider der Dienstmädchen sahen aus, als wären sie schon vor Jahrzehnten aus der Mode gekommen, was durchaus den Tatsachen entsprach.
Alma stellte Schneiderinnen ein, die unverzüglich für alle Bediensteten neue Kleider zu nähen begannen, und in Erwartung des Sommers gab sie sogar zwei neue Leinenkleider für sich selbst in Auftrag. Auch Ambrose bot sie einen neuen Anzug an, doch er bat stattdessen um vier neue Pinsel. Genau vier. Sie bot ihm fünf an. Die brauche er nicht, entgegnete er. Vier seien schon Luxus genug. Sie engagierte ein ganzes Bataillon von jungen, unverbrauchten Angestellten, die dem Anwesen zu neuem Glanz verhelfen sollten. Im Laufe der Jahre waren zahlreiche Arbeiter gestorben oder entlassen worden, und Alma wurde gewahr, dass man sie nie ersetzt hatte. Auf dem gesamten Anwesen war nur noch ein Drittel so viel Personal beschäftigt wie vor fünfundzwanzig Jahren, und das war einfach nicht genug.
Anfangs wehrte sich Hanneke gegen die Neuankömmlinge. »Ich habe nicht mehr die körperliche und geistige Kraft, aus schlechten Arbeitern gute zu machen«, klagte sie.
»Aber Hanneke«, redete Alma ihr zu. »Sieh doch, mit welcher Raffinesse Mr Pike das Orchideenhaus auf Hochglanz poliert hat! Wollen wir nicht alle, dass ganz White Acre wieder so schön wird?«
»Raffinesse, Raffinesse – davon hat die Welt schon viel zu viel«, erwiderte Hanneke. »Was fehlt, ist gesunder Menschenverstand. Dein Mr Pike sorgt nur dafür, dass andere noch mehr Arbeit haben. Deine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, dass sich hier Leute damit abgeben, Blumen zu polieren.«
»Nicht die Blumen werden poliert«, stellte Alma richtig. »Nur die Blätter.«
Nach und nach strich Hanneke jedoch die Segel, und es dauerte nicht lange, da wurde Alma Zeugin, wie sie das junge Personal sogar anwies, die alten Mehlfässer aus dem Keller zu schleppen und in der Sonne trocknen zu lassen, eine lästige Arbeit, die – soweit sich Alma erinnerte – zum letzten Mal in Zeiten der Präsidentschaft von Andrew Jackson durchgeführt worden war.
»Treiben Sie es mit der Reinlichkeit nur nicht zu weit, Alma«, warnte Ambrose. »Ein wenig Vernachlässigung kann durchaus von Vorteil sein. Vielleicht haben Sie schon einmal bemerkt, dass der prachtvollste Flieder neben verfallenen Scheunen und verlassenen Schuppen wächst? Schönheit muss sich mitunter ein wenig übergangen fühlen, um sich weidlich zu entfalten.«
»So spricht ein Mann, der seine Orchideen mit Bananenschalen zum Glänzen bringt!«, entgegnete Alma lachend.
»Nun, es sind eben Orchideen«, verteidigte sich Ambrose. »Das ist etwas anderes. Orchideen sind heilige Reliquien, denen man mit Ehrfurcht begegnen muss.«
»Also wirklich, Ambrose«, erwiderte Alma. »Ganz White Acre war auf dem besten Weg, sich in eine heilige Reliquie zu verwandeln – nämlich in ein Relikt aus uralten Zeiten!«
Inzwischen sprachen sich die beiden mit »Alma« und »Ambrose« an.
Der Mai verging. Der Juni verging. Der Juli kam.
War Alma jemals so glücklich gewesen?
Nein, noch nie war sie so glücklich gewesen.
Bis zu dem Tag, an dem Ambrose Pike nach White Acre kam, hatte Alma ein leidlich gutes Leben geführt. Ihre Welt mochte klein sein und ihre Tage monoton, doch nichts davon war unerträglich für sie. Sie hatte das Beste aus ihrem Schicksal gemacht. Das Studium der Moose
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