Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
die grausigen Geißeln der Prostitution. Hatte Kapitän Cook die Einwohnerzahl der Insel 1772 noch auf zweihunderttausend Seelen geschätzt, so war sie 1815 erdrutschartig auf etwas über achttausend gesunken. Die Krankheiten machten vor niemandem halt – vor den Häuptlingen und Grundbesitzern ebenso wenig wie vor den Niedriggestellten. Der König verlor seinen eigenen Sohn an die Schwindsucht.
Dies hatte zur Folge, dass die Tahitianer an ihren Göttern zweifelten. Wenn der Tod so viele Häuser heimsucht, stehen alle Sicherheiten in Frage. Und mit den Krankheiten verbreiteten sich auch die Gerüchte, der Gott der Engländer wolle die Tahitianer bestrafen, weil sie Seinen Sohn Jesus Christus nicht anerkannten. Diese Angst machte die Bewohner Tahitis bereit für den Herrn, und König Põmare war der Erste, der sich bekehrte. Seine erste Amtshandlung als Christ bestand darin, ein Festmahl vorzubereiten und vor aller Augen davon zu essen, ohne zuvor den alten Göttern zu opfern. Die Massen umringten ihren König in heller Panik; sie waren überzeugt, er müsse an Ort und Stelle von den zornigen Göttern niedergestreckt werden. Doch nichts geschah.
Danach bekehrten sie sich alle. Tahiti, geschwächt, gedemütigt und dezimiert, trat endlich zum Christentum über.
»War das nicht ein Glück für uns?«, sagte Reverend Welles zu Alma. »War das nicht ein besonders großes Glück für uns?«
Er sagte das in demselben heiteren Ton, mit dem er immer sprach. Das war das Eigentümliche an Reverend Welles. Es war Alma unmöglich zu erkennen, was sich hinter dieser ewig guten Laune verbarg, ob sich überhaupt etwas dahinter verbarg. War er ein Zyniker? Ein Ketzer? War er schlicht einfältig? War seine Unschuld erlernt oder angeboren? An seiner Miene konnte man nichts ablesen, sie blieb stets ins gleiche helle Licht kindlicher Aufrichtigkeit getaucht. Sein Gesicht war so offen, dass es die Missgünstigen, die Habgierigen, die Grausamen vor Scham vergehen ließ. Manchmal erfüllte dieses Gesicht auch Alma mit Scham, denn sie war ihm gegenüber nie aufrichtig gewesen, was ihre eigene Geschichte und ihre Beweggründe betraf. Manchmal wollte sie sich einfach zu ihm hinabbeugen, seine kleine Hand in ihre riesenhafte nehmen und, unter Umgehung der respektvollen Titulierungen »Bruder Welles« und »Schwester Whittaker«, ganz schlicht zu ihm sagen: »Ich war nicht ehrlich zu Ihnen, Francis. Lassen Sie mich meine Geschichte erzählen. Lassen Sie mich von meinem Mann berichten und von unserer widernatürlichen Ehe. Und bitte helfen Sie mir, zu begreifen, wer Ambrose wirklich war. Bitte sagen Sie mir, was Sie über ihn wissen, und bitte sagen Sie mir auch, was Sie über den Knaben wissen.«
Doch sie tat es nicht. Er war ein Diener Gottes, ein achtbarer, verheirateter Christ. Wie hätte sie von solchen Dingen zu ihm sprechen sollen?
Reverend Welles erzählte Alma seine ganze Geschichte und verschwieg kaum etwas. Er erzählte ihr, wie er und Mrs Welles, nur wenige Jahre nach der Bekehrung König Põmares, ganz unerwartet ein weiteres Töchterchen bekommen hatten. Und dieses Kind blieb am Leben. Mrs Welles sah dies als Zeichen von Gottes Wohlwollen – das Ehepaar Welles hatte schließlich dazu beigetragen, Tahiti zum Christentum zu bekehren. Und so nannten sie das Kind Christina. Zu jener Zeit bewohnte die Familie das hübscheste Häuschen in der ganzen Missionssiedlung, gleich neben der Kirche, dasselbe Häuschen, in dem heute Schwester Manu lebte, und sie waren wahrhaftig glücklich. Mit ihrer Tochter pflanzte Mrs Welles Löwenmäulchen und Rittersporn, sie legten einen richtigen englischen Garten im Miniaturformat an. Die Kleine konnte schwimmen, noch ehe sie laufen konnte, wie jedes andere Kind auf der Insel.
»Christina war mir Freude und Lohn«, erzählte der Reverend. »Doch meine Frau war der Meinung, Tahiti sei kein Ort, an dem ein englisches Mädchen aufwachsen solle. Es gebe so viele verderbliche Einflüsse, nicht wahr. Ich bin da anderer Ansicht, aber Mrs Welles war überzeugt davon. Als Christina zur jungen Frau herangewachsen war, brachte Mrs Welles sie zurück nach England. Seither habe ich beide nicht mehr gesehen. Ich werde sie auch nicht mehr wiedersehen.«
Dieses Schicksal erschien Alma nicht nur trostlos, sondern auch enorm ungerecht. Kein rechtschaffener Engländer, dachte sie, sollte hier inmitten der Südsee zurückbleiben und ganz allein der Einsamkeit des Alters entgegenblicken müssen. Sie dachte an ihren
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