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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Vater in seinen letzten Lebensjahren: Was hätte er ohne sie, Alma, angefangen?
    Als läse er in ihrer Miene, fuhr Reverend Welles fort: »Ich sehne mich nach meiner lieben Frau und nach Christina, doch ich bin hier keineswegs ganz ohne Familie. Schwester Manu und Schwester Etini betrachte ich nicht nur dem Namen nach als meine Schwestern. Und wir hatten das große Glück, an unserer Missionsschule im Lauf der Jahre etliche kluge und großherzige Schüler auszubilden, die ich als meine Kinder ansehe. Manche von ihnen sind inzwischen selbst Missionare geworden, nicht wahr. Da ist Tamatoa Mare, der die Frohe Botschaft auf der großen Insel Raiatea verkündet. Da ist Patii, der das Reich des Erlösers auf die Insel Huanhine ausdehnt. Und Paumoana wirkt unermüdlich im Namen des Herrn auf Bora Bora. Sie alle sind meine Söhne, und sie werden überall geachtet. Hier auf Tahiti gibt es einen Brauch, den man taio nennt, nicht wahr, eine Art Adoption, eine Möglichkeit, aus Fremden Angehörige zu machen. Wenn man einen taio mit einem Eingeborenen eingeht, tauscht man gewissermaßen seine Abstammung aus und wird zum Teil der Ahnenreihe des anderen. Die Ahnenreihe ist hier von großer Bedeutung. Manche Tahitianer können ihre Vorfahren bis zurück in die dreißigste Ahnengeneration aufzählen, ganz ähnlich den Genealogien in der Bibel, nicht wahr. In eine solche Ahnenreihe aufgenommen zu werden ist eine große Ehre. Ich habe also meine tahitianischen Söhne bei mir, sozusagen, denn sie leben auf diesen Inseln und sind mir altem Mann ein großer Trost.«
    »Aber sie sind nicht hier bei Ihnen.« Alma konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. Sie wusste nur zu gut, wie weit Bora Bora entfernt lag. »Sie sind nicht hier, um Ihnen zu helfen, und können sich nicht um Sie kümmern, wenn Sie sie brauchen.«
    »Da sagen Sie etwas Wahres, und doch ist es mir ein Trost zu wissen, dass es sie gibt. Ich fürchte, Sie halten mein Leben für ein sehr trauriges. Täuschen Sie sich nicht. Ich bin an dem Ort, an dem ich sein soll. Ich könnte meine Mission niemals verlassen, nicht wahr. Meine Arbeit hier ist kein bloßer Botengang, Schwester Whittaker. Meine Arbeit hier ist keine Anstellung, nicht wahr, von der man sich behaglich aufs Altenteil zurückziehen könnte. Meine Arbeit besteht darin, diese kleine Kirche hier am Leben zu halten, solange auch ich lebe, als Rettungsfloß gegen die Stürme und Leiden dieser Welt. Wer immer an Bord dieses Floßes kommen will, der darf das tun. Ich zwinge niemanden, an Bord zu kommen, nicht wahr, doch wie könnte ich jemals selbst von Bord gehen? Meine liebe Frau wirft mir vor, ein guter Christ, aber kein guter Missionar zu sein. Womöglich hat sie recht! Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals einen Menschen bekehrt habe. Und doch ist diese Kirche meine Bestimmung, Schwester Whittaker, und deswegen muss ich bleiben.«
    Er war, erfuhr Alma, siebenundsiebzig Jahre alt.
    Er lebte schon länger in der Matavai-Bucht, als es Alma überhaupt gab.

Kapitel 24
    Der Oktober kam.
    Auf der Insel brach die Jahreszeit an, die die Tahitianer hia’ia nennen: die Zeit der Entbehrungen, in der Brotfrüchte nur schwer zu finden sind und die Menschen mitunter Hunger leiden. Zum Glück gab es in der Matavai-Bucht keine Hungersnot. Zwar schwelgten sie auch nicht gerade im Überfluss, doch es musste niemand darben. Dafür sorgten die Fische und die Taro-Wurzel.
    Ach, die Taro-Wurzel! Die farblose, fade Taro-Wurzel! Zerrieben und zu Brei zerstampft, glitschig gekocht, über Kohle gegrillt, zu kleinen, feuchten Bällchen geformt, die man poi nannte, kam sie allenthalben zum Einsatz: beim Frühstück, bei der Kommunion, bei der Schweinefütterung. Manchmal wurde die Eintönigkeit dieses Speiseplans von winzigen Bananen durchbrochen – süßen, köstlichen Bananen, die man nahezu am Stück verspeisen konnte –, doch auch diese waren nun schwer zu finden. Alma beäugte sehnsüchtig die Schweine, doch Schwester Manu gedachte offenbar, sie für schlechtere Zeiten größeren Hungers aufzuheben. Es gab also kein Schweinefleisch zu genießen, nur Taro-Wurzel zu jeder Mahlzeit und manchmal, wenn man Glück hatte, einen schönen, großen Fisch. Alma hätte viel um einen Tag ohne Taro-Wurzel gegeben – doch ein Tag ohne Taro-Wurzel war ein Tag ohne Nahrung. Allmählich begriff sie, weshalb Reverend Welles das Essen fast völlig aufgegeben hatte.
    Die Tage waren ruhig, heiß und windstill. Alle wurden lustlos und träge. Roger, der

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