Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Hund, buddelte ein Loch in Almas Garten und verschlief dort hechelnd praktisch den ganzen Tag. Räudige Hühner scharrten nach Nahrung, gaben jedoch bald auf und hockten sich entmutigt in den Schatten. Selbst Hiro und Konsorten – diese lebhaften kleinen Knirpse – dösten den ganzen Nachmittag wie alte Hunde im Schatten. Manchmal rafften sie sich zu halbherzigen Beschäftigungen auf. Hiro hatte sich einen Axtkopf beschafft, den er an ein Seil band und wie einen Gong gegen den Felsen schlug. Einer der Makeas trommelte mit einem Stein auf einem alten Fassreifen. Alma vermutete, dass es eine Art Musik sein sollte, doch in ihren Ohren klang sie eintönig und stumpf. Ganz Tahiti war gelangweilt und müde.
Zur Zeit ihres Vaters hatten die Fackeln des Krieges und der Lust die Insel erhellt. Die schönen jungen Männer und Frauen tanzten just hier an diesem Strand so wild und ausschweifend um die Feuer, dass Henry Whittaker, damals noch jung und ungeformt, erschrocken den Blick abwenden musste. Nun war alles Ödnis. Die Missionare, die Franzosen und die Walfänger mit all ihren Predigten, ihrer Bürokratie und ihren Krankheiten, hatten Tahiti den Teufel ausgetrieben. Die mächtigen Krieger waren allesamt tot. Übrig blieben nur diese trägen Kinder, die im Schatten dösten und sich eine kaum ausreichende Abwechslung verschafften, indem sie auf Felsen und Fassreifen eindroschen. Wo sollte die Jugend sonst mit ihrer Wildheit hin?
Alma suchte weiter nach dem Knaben und unternahm dazu immer ausgedehntere Wanderungen, allein, mit Roger dem Hund oder mit dem mageren, namenlosen Pony. Sie erkundete die kleinen Dörfer und Siedlungen an der Küste der Insel, rechts und links der Matavai-Bucht. Sie sah zahllose Männer und Jungen. Es waren schöne Jünglinge darunter, von der edlen Gestalt, die die ersten Besucher aus Europa so tief beeindruckt hatte, doch sie sah auch junge Männer, deren Beine von schwerer Elefantiasis verformt waren, und kleine Jungen mit skrofulösen Augen, als Folge der venerischen Krankheiten ihrer Mütter. Sie sah Kinder, deren Wirbelsäule von der Tuberkulose gekrümmt und verdreht war. Sie sah Halbwüchsige, die eigentlich hübsch gewesen wären, jedoch von den Pocken oder den Masern entstellt waren. Sie stieß auf fast verlassene Dörfer, die im Laufe der Jahre von Krankheit und Tod geräumt worden waren. Sie sah Missionssiedlungen, in denen es sehr viel strenger zuging als in der Matavai-Bucht. Bisweilen besuchte sie in diesen fremden Missionen auch eine Messe, doch niemand sang dort auf Tahitianisch; stattdessen sangen die Menschen mit starkem Akzent einlullende presbyterianische Kirchenlieder. In keiner dieser Gemeinden konnte Alma den Knaben entdecken. Sie begegnete erschöpften Arbeitern, verirrten Wanderern, schweigsamen Fischern. Sie sah einen uralten Mann, der mitten in der prallen Sonne saß und die tahitianische Flöte spielte, auf traditionelle Art, indem er mit einem Nasenloch hineinblies – ein so wehmütiger Klang, dass Alma die Sehnsucht nach ihrer Heimat wie ein Brennen in der Lunge spürte. Allein, den Knaben sah sie nie.
Ihre Suche blieb fruchtlos, ihre tagtäglichen Erhebungen ergebnislos, doch jedes Mal war sie froh, in die Matavai-Bucht und ihren Missionsalltag zurückzukehren. Sie war dankbar, wenn Reverend Welles sie einlud, sie zu seiner Korallenfarm zu begleiten. Ihr wurde klar, dass seine Korallen ihren Moosfeldern auf White Acre durchaus ähnlich waren: etwas Ergiebiges, bedächtig Wucherndes, das man über Jahre hinweg studieren und damit die Jahrzehnte herumbringen konnte, ohne der Einsamkeit zu verfallen. Sie genoss die Gespräche, die sie bei diesen Ausflügen zum Riff mit dem Reverend führte. Er hatte Schwester Manu gebeten, Alma aus den Blättern des Schraubenbaums ein Paar rifftaugliche Sandalen zu knüpfen, wie auch er sie trug, damit sie über die scharfkantigen Korallen laufen konnte, ohne sich Schnittwunden an den Füßen zuzuziehen. Er zeigte Alma seine Menagerie aus Schwämmen, Seeanemonen und Korallen – die ganze fesselnde Schönheit der seichten, klaren tropischen Gewässer. Er lehrte sie die Namen der farbenfrohen Fische und erzählte ihr zahllose Geschichten über Tahiti. Nie stellte er auch nur eine Frage über ihr Leben. Das erleichterte Alma: So brauchte sie ihn nicht zu belügen.
Auch die kleine Kirche in der Matavai-Bucht wuchs ihr immer mehr ans Herz. Das Bauwerk entbehrte wahrhaftig jeglicher Pracht und Herrlichkeit (anderswo auf der Insel sah
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