Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Nacht wurde es nicht kühler als am Tag. Ihr kleines Haus geriet zum stickigen Ofen. Eines Nachts schrak sie hoch, weil ihr die Stimme eines Mannes direkt ins Ohr flüsterte: »Lausche!« Doch als sie sich aufsetzte, war niemand im Raum, weder Hiro und Konsorten noch Roger der Hund. Kein Windhauch war zu spüren. Mit heftig klopfendem Herzen trat sie nach draußen. Auch dort war niemand. Sie sah, dass die Matavai-Bucht inmitten der stillen, balsamischen Nacht glatt dalag wie ein Spiegel. Das ganze Sternenzelt spiegelte sich so klar im Wasser, als gäbe es zwei Himmel: einen über und einen unter ihr. Es hatte etwas Erhabenes in seiner Ruhe und Reinheit. Der Strand schien bevölkert von Geisterwesen.
Ob Ambrose so etwas je erlebt hatte, während er hier war? Zwei Himmel in einer Nacht? Hatte er diese Furcht und dieses Staunen verspürt, das Gefühl, zugleich umringt und allein zu sein? War er es gewesen, der sie gerade aufgeweckt hatte, die Stimme in ihrem Ohr? Sie versuchte, sich zu erinnern, ob es Ambroses Stimme gewesen war, doch sie konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Würde sie seine Stimme überhaupt noch erkennen, wenn sie sie hörte?
Gleichwohl sah es Ambrose nur allzu ähnlich, sie aufzuwecken und ihr aufzutragen zu lauschen . Ohne jeden Zweifel. Wenn je ein Toter versucht hatte, zu den Lebenden zu sprechen, dann Ambrose Pike – er, mit all seinen hochfliegenden Vorstellungen vom Metaphysischen und Mirakulösen. Er hätte ja selbst Alma beinahe überzeugt, dass es Wunder gab, und sie war solchen Anwandlungen wahrhaftig nicht zugänglich. Waren sie nicht wie Magier gewesen in jener Nacht in der Bindekammer, als sie ohne Worte zueinander sprachen, über ihre Fußsohlen und ihre Handflächen miteinander kommunizierten? Er hatte zu ihr gesagt, er wolle an ihrer Seite schlafen, um ihren Gedanken zu lauschen. Sie hatte an seiner Seite schlafen wollen, um endlich der Fleischeslust zu frönen und das Glied eines Mannes in den Mund zu nehmen – doch er wollte nur ihren Gedanken lauschen. Warum hatte sie nicht zulassen können, dass er einfach lauschte? Warum hatte er nicht zulassen können, dass sie ihn sich einfach nahm?
Hatte er überhaupt an sie gedacht, und sei es auch nur ein einziges Mal, während er hier auf Tahiti war?
Vielleicht versuchte er ja jetzt, ihr Botschaften zukommen zu lassen, doch der Graben war zu breit. Womöglich weichten die Worte auf in dem gewaltigen Abgrund zwischen dem Tod und der Welt und wurden unleserlich – so wie die traurigen, zerstörten Briefe, die der Reverend manchmal von seiner Frau aus England erhielt.
»Wer warst du?«, fragte Alma Ambrose inmitten dieser bleiernen Nacht, während sie auf die stille, spiegelnde Bucht blickte. Ihre Stimme klang so laut an dem leeren Strand, dass sie selbst erschrak. Sie lauschte auf eine Antwort, bis ihr die Ohren schmerzten, doch sie hörte nichts. Nicht einmal eine winzige Welle schwappte an den Strand. Das Wasser hätte auch aus geschmolzenem Zinn bestehen können, ebenso wie die Luft.
»Wo bist du jetzt, Ambrose?«, fragte sie, diesmal ein wenig leiser.
Nichts.
»Zeig mir, wo ich den Knaben finden kann«, bat sie mit kaum hörbarem Flüstern.
Ambrose antwortete nicht.
Die Matavai-Bucht antwortete nicht.
Der Himmel antwortete nicht.
Sie blies auf erloschene Glut; da war einfach nichts.
Alma setzte sich hin und wartete. Sie dachte an die Geschichte, die Reverend Welles ihr von Taroa erzählt hatte, dem ursprünglichen Gott der Tahitianer. Taroa, der Schöpfer. Taroa, aus einer Muschel entsprungen. Zahllose Ewigkeiten hindurch ruhte Taroa schweigend, das einzig Lebendige im ganzen Universum. So leer war die Welt, dass nicht einmal ein Echo zurückkam, wenn er durch die Dunkelheit rief. Er wäre beinahe vor Einsamkeit gestorben. Und aus dieser unermesslichen Einsamkeit und Leere schuf Taroa unsere Welt.
Alma ließ sich in den Sand zurücksinken und schloss die Augen. Hier draußen war es bequemer als auf der Matratze in ihrem stickigen Häuschen. Sie störte sich nicht an den Krabben, die geschäftig um sie herumhuschten und -wuselten. Geborgen unter ihren Panzern waren sie das Einzige, was sich an diesem Strand bewegte, das einzig Lebendige im ganzen Universum. So wartete Alma auf diesem kleinen Streifen Erde zwischen zwei Firmamenten, bis die Sonne aufging und alle Sterne sowohl aus dem Himmel wie auch aus dem Meer verschwunden waren, doch immer noch sprach niemand zu ihr.
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Schließlich kam das Weihnachtsfest und mit
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