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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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der festen Überzeugung, dass dies die wichtigste Pirsch ihres Lebens war. Es war ihre letzte und beste Möglichkeit, den Knaben noch zu finden. Falls er sich irgendwo hier auf der Insel aufhielt, dann würden diese unermüdlichen Kinder ihn finden.
    Als die reizende Schwester Etini Alma schließlich mit besorgter Miene fragte, wo sie denn bloß ihre Tage verbringe, antwortete Alma schlicht: »Ich suche nach Moosen und lasse mich dabei von euren fünf fähigsten jungen Naturforschern unterstützen.«
    Niemand zweifelte an ihrer Aussage, denn es war allerbeste Moossaison. Tatsächlich entdeckte Alma auf ihren Wegen allerlei faszinierende Moosgewächse an Felsen und Steinen, allein sie blieb nicht stehen, um sie genauer zu betrachten. Die Moose würden auf ewig dort sein, sie aber war auf der Suche nach etwas Flüchtigerem, Dringlicherem: einem Mann. Einem Mann, der Geheimnisse kannte. Um ihn zu finden, musste sie in der Menschenzeit verweilen.
    Die Jungen ihrerseits freuten sich an dem unerwarteten Spiel, die sonderbare alte Dame durch ganz Tahiti zu führen, ihr alles Verbotene zu zeigen und sie mit den entlegensten Völkern bekannt zu machen. Sie führten Alma zu verlassenen Tempeln und in finstere Höhlen, wo in den Ecken noch menschliche Knochen schimmerten. Mitunter trieben sich auch lebende Tahitianer an diesen unheilvollen Orten herum, doch der Knabe war nie darunter. Sie führten Alma in eine kleine Siedlung am Ufer des Maeva-Sees, wo die Frauen noch Baströcke trugen und grausige Tätowierungen die Gesichter der Männer zierten, doch auch dort fand sich der Knabe nicht. Er war weder unter den Jägern, die ihnen auf diesen gefahrvollen Pfaden begegneten, noch auf den Hängen des Berges Orohena, er fand sich weder auf dem Berg Aorii noch in den langen vulkanischen Tunneln. Hiro und Konsorten führten sie auf einen smaragdenen Gebirgskamm hoch über der Welt, so hoch, dass er den Himmel entzweizuschneiden schien – denn auf der einen Seite des Gipfels regnete es, und auf der anderen schien die Sonne. Alma stand auf diesem schmalen Grat, links die Dunkelheit, rechts das Licht, doch nicht einmal hier, auf dem höchsten Aussichtspunkt, den man sich denken konnte, hier, wo die Witterungen aufeinanderprallten, hier an der Grenze zwischen pô und ao , war der Knabe zu entdecken.
    Mit der Zeit errieten die Kinder, dass Alma etwas suchte, doch Hiro, wie stets der Schlaueste unter ihnen, war es, der schließlich erkannte, dass sie jemanden suchte.
    »Er nicht hier?«, fragte er Alma teilnahmsvoll, wenn wieder ein Tag zu Ende ging. Hiro hatte angefangen, Englisch zu sprechen, und fand sich selbst ganz vortrefflich darin.
    Alma mochte zwar nicht zugeben, dass sie auf der Suche nach einer Person war, doch sie stritt es auch nicht ab.
    »Wir ihm finden morgen!«, versprach Hiro ihr jeden Tag aufs Neue, doch der Januar verging, und der Februar verging, und Alma konnte den Knaben immer noch nicht finden.
    »Wir ihm finden nächste Sonntag!«, beteuerte Hiro – denn »Sonntag« war hier die gängige Bezeichnung für die ganze Woche. Doch vier weitere Sonntage zogen ins Land, und Alma konnte den Knaben nicht finden. Nun war es bereits April geworden. Hiro wurde von Tag zu Tag bekümmerter und missmutiger. Ihm fiel kein Ort mehr ein, an den er Alma auf ihren Ausflügen kreuz und quer über die Insel noch hätte führen können. Das Ganze war keine lustige Abwechslung mehr; es war ein ernsthaftes Unternehmen geworden, und Hiro erkannte, dass er im Begriff stand, daran zu scheitern. Auch die Konsorten, die seine gedrückte Stimmung spürten, verloren ihre Freude daran. Da entschloss sich Alma, die fünf von ihren Verpflichtungen zu entbinden. Sie waren noch zu jung, um diese Last mit ihr zu tragen, und sie wollte sie nicht von Sorgen und Verantwortungsgefühl niedergedrückt sehen, nur weil sie in ihrem Auftrag einem Phantom nachjagten.
    Und so entließ Alma Hiro und Konsorten aus dem Spiel und ging nie wieder mit ihnen auf Wanderung. Als Lohn schenkte sie jedem der fünf ein Teil ihres geliebten Mikroskops, das sie ihr im Laufe der vergangenen Monate nahezu unversehrt zurückerstattet hatten, und schüttelte ihnen die Hand. Auf Tahitianisch erklärte sie die fünf zu den tapfersten Kriegern, die es je gegeben habe. Sie dankte ihnen für ihre mutige Umrundung der bekannten Welt. Und sie sagte ihnen, sie habe alles gefunden, was sie habe finden wollen. Dann ließ sie sie ziehen, auf dass sie sich wieder ihrer früheren Tätigkeit

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