Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
dass Alma sich an ihre eigene Kindheit erinnert fühlte. Damals hatte auch sie sich weder von Regen noch von Schlamm an ihren Erkundungsausflügen hindern lassen. Dieser Gedanke zog eine ebenso unvermittelte wie drängende Frage nach sich: Warum saß sie dann jetzt die ganze Zeit in ihrem Häuschen? Als kleines Mädchen war sie nie vor dem Wetter geflüchtet – warum sollte sie nun als Erwachsene davor fliehen? Wenn es auf der ganzen Insel keinen trockenen Zufluchtsort gab, warum dann nicht einfach nass werden? Und diese Frage führte Alma überraschend zu einer weiteren: Warum hatte sie bei ihrer Suche nach dem Knaben nicht Hiro und Konsorten mit eingespannt? Wer wäre besser geeignet, einen verschwundenen jungen Tahitianer zu finden als andere junge Tahitianer?
Kaum war ihr dies alles klargeworden, eilte Alma auch schon aus ihrem Häuschen und rief die fünf wilden Jungen zu sich, die gerade damit beschäftigt waren, einander energisch mit Matsch zu bewerfen. Sie stürzten als ein schmieriges, schlammiges, kicherndes Ganzes auf Alma zu. Es erheiterte sie, die weiße Frau hier mitten im Regen an ihrem Strand zu sehen, in einem durchnässten Kleid, das vor ihren Augen stetig nasser wurde. Es war ein höchst unterhaltsamer Anblick, der sie nichts kostete.
Alma scharte die Jungen um sich und redete in einer Mischung aus Tahitianisch, Englisch und leidenschaftlicher Gestik auf sie ein. Später konnte sie sich kaum noch entsinnen, wie es ihr eigentlich gelungen war, ihren Plan zu erläutern, doch ihre grundlegende Botschaft lautete: Die Zeit ist reif – auf ins Abenteuer, Jungs! Sie fragte sie, ob sie jene Orte in der Mitte der Insel kannten, die aufzusuchen Schwester Manu allen Bewohnern der Siedlung strengstens untersagte. Kannten sie auch wirklich all die verbotenen Orte, wo die Felsbewohner lebten und die entlegensten heidnischen Dörfer lagen? Und wollten sie Schwester Whittaker dorthin führen und ein paar großartige Abenteuer erleben?
Ob sie wollten? Und ob sie wollten! Der Gedanke begeisterte sie derart, dass sie noch am selben Tag aufbrachen. Genauer gesagt brachen sie umgehend auf, und Alma folgte ihnen ohne viel Federlesens. Ohne Schuhe, ohne Landkarte, ohne Proviant und – Gott behüte! – ohne Schirm führten die Jungen Alma direkt hinauf in die Berge hinter der Missionssiedlung, fort von den harmlosen kleinen Küstendörfern, die sie bereits auf eigene Faust erkundet hatte. Direkt hinauf stiegen sie, hinein in den Nebel, hinein in die Regenwolken, hoch zu den urwaldbewachsenen Gipfeln, die Alma vom Deck der Elliot aus zum ersten Mal erblickt hatte und die ihr damals so furchterregend fremd erschienen waren. Hinauf stiegen sie – und nicht nur an diesem einen Tag, sondern an jedem Tag des folgenden Monats. Tagtäglich folgten sie noch abgelegeneren Pfaden zu noch unerforschteren Zielen, meist im strömenden Regen, und Alma Whittaker blieb ihnen stets dicht auf den Fersen.
Anfangs befürchtete Alma, nicht mit ihnen Schritt halten zu können, doch schon bald erkannte sie zweierlei: dass ihr die vielen Jahre des Botanisierens zu einer ungewöhnlich guten Kondition verholfen hatten und dass die Kinder auf die Schwächen ihrer Begleiterin auf reizende Weise Rücksicht nahmen. An besonders gefährlichen Abzweigungen warteten sie auf Alma und verlangten auch nicht von ihr, dass sie über tiefe Felsspalten sprang oder sich an nassen Steilwänden emporzog, wie sie selbst es mit behänder Leichtigkeit taten. Manchmal, wenn ein besonders steiler Anstieg zu bewältigen war, traten Hiro und Konsorten hinter sie und schoben sie recht unwürdig hinauf, die Hände an ihrem ausladenden Hinterteil, doch Alma störte sich nicht daran: Sie wollten ihr schließlich nur helfen. Sie behandelten sie zuvorkommend. Sie jubelten, wenn ihr ein Aufstieg gelungen war, und wenn einmal die Nacht hereinbrach, während sie sich noch im Dschungel befanden, nahmen sie Alma bei den Händen und geleiteten sie sicher zur Mission zurück. Auf diesen Gängen durch die Dunkelheit brachten sie ihr tahitianische Kriegslieder bei, wie sie die Männer sangen, um sich im Angesicht der Gefahr Mut zu machen.
Die Tahitianer genossen in der ganzen Südsee einen Ruf als begabte Kletterer und furchtlose Wanderer; Alma hatte von Inselbewohnern erzählen hören, die dreißig Meilen am Tag in solch unwegsamem Gelände zurücklegten, ohne müde zu werden. Doch auch sie ermüdete nicht leicht – zumindest nicht, wenn sie auf der Pirsch war, und sie war
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