Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
selbst einmal für einen Engel hielt – man stelle sich vor! Alma war einmal um die halbe Welt gereist, um einem Geisterbild nachzuspüren, das der labilen und umnachteten Einbildung eines Einsamen entsprungen war.
Es war eine geradezu banale Geschichte, die sie durch ihre nutzlosen Nachforschungen kompliziert gemacht hatte. Vielleicht hatte sie ja gewollt, dass das Ganze eine finstere Note bekam, und sei es nur, um ein tragischeres Licht auf ihre eigene Geschichte zu werfen. Vielleicht hatte sie ja gewollt, dass Ambrose sich solcher Abscheulichkeiten schuldig gemacht, der Knabenliebe und der Unzucht gefrönt hatte, damit sie ihn verabscheuen konnte, anstatt sich nach ihm zu sehnen. Vielleicht hatte sie hier auf Tahiti ja nicht nur einen Knaben finden wollen, sondern viele – ein ganzes Heer von Lustknaben, die Ambrose einen nach dem anderen geschändet und entehrt hatte. Doch für all das gab es keinerlei Anzeichen. In Wahrheit verhielt es sich einfach so: Alma war so töricht und lüstern gewesen, einen unschuldigen jungen Mann zu heiraten, der nicht ganz bei Verstand war. Und als dieser junge Mann sie enttäuschte, war sie so grausam und zornig gewesen, ihn hierher nach Tahiti zu schicken, wo er einsam und geistig zerrüttet gestorben war, versponnen in seine Phantastereien, verloren in einer heillosen kleinen Siedlung unter der Führung – falls man es denn Führung nennen konnte! – eines treuherzigen, gescheiterten alten Missionars.
Was nun die Frage betraf, warum Ambroses Koffer und seine Zeichnungen fast ein Jahr lang von allen (bis auf die Natur) unangetastet in Almas unbewachtem fare verblieben waren, wo doch all ihre übrigen Habseligkeiten entliehen, entwendet, zerlegt und geplündert wurden … nun, um dieses Rätsel zu lösen, fehlte es ihr schlicht an Phantasie. Vor allem aber fehlte ihr der Wille, mit einer weiteren unlösbaren Frage zu ringen.
Es gab hier nichts mehr zu erfahren.
Alma sah keine Veranlassung mehr, noch länger zu bleiben. Nun galt es, die restlichen Jahre ihres Lebens zu planen. Sie hatte spontan und unbesonnen gehandelt, doch nun würde sie mit dem nächsten Walfänger nach Norden reisen und sich einen Ort zum Leben suchen. Heim nach Philadelphia konnte sie nicht. Sie hatte White Acre aufgegeben und konnte nicht mehr dorthin zurück; es wäre Prudence gegenüber nicht recht gewesen, schließlich hatte sie einen Anspruch darauf, das Anwesen zu führen, ohne dass Alma ihr beständig zur Last fiel. Zudem wäre eine solche Heimkehr einer Demütigung gleichgekommen. Sie musste noch einmal ganz von vorn beginnen. Und sie musste eine Möglichkeit finden, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Gleich morgen würde sie Nachricht nach Papeete schicken, dass sie eine Koje auf einem bewährten Schiff suche, dessen Kapitän ehrenwert war und Dick Yancey kannte.
All das brachte ihr keinen Frieden, doch immerhin hatte sie sich entschieden.
Kapitel 25
Vier Tage später wachte Alma frühmorgens auf, als sie Hiro und Konsorten freudig rufen hörte. Sie trat vor ihr fare , um zu sehen, was der Grund für den Aufruhr war. Ihre fünf kleinen Wilden rannten am Strand umher, schlugen im Licht des frühen Morgens Saltos und Räder und jubelten begeistert auf Tahitianisch. Als Hiro Alma erblickte, jagte er flugs den verschlungenen Zickzackpfad bis zu ihrer Tür hinauf.
»Tomorrow Morning ist da!«, rief er auf Englisch. Seine Augen funkelten vor Aufregung, wie Alma es selbst bei diesem leicht zu begeisternden Kind noch nicht erlebt hatte.
Verblüfft fasste sie ihn am Arm, um ihn zu beruhigen und zu einer klareren Aussage zu bewegen.
»Was soll das heißen, Hiro?«, fragte sie.
»Tomorrow Morning ist da!«, rief er erneut und hüpfte dabei auf und ab, als könnte er kaum an sich halten.
»Sag es mir noch einmal auf Tahitianisch«, befahl sie ihm auf Tahitianisch.
»Teie o tomorrow morning!« , rief er, was nichts anderes bedeutete als die sinnlose Aussage, die er zuvor auf Englisch getätigt hatte: »Tomorrow Morning ist da!«
Alma blickte auf und sah, dass sich am Strand Menschen sammelten: Die ganze Siedlung war auf den Beinen, desgleichen die Bewohner der umliegenden Dörfer. Und alle waren ebenso aufgeregt wie die fünf Jungen. Sie sah Reverend Welles mit seinen lustigen, o-beinigen Schritten zum Ufer eilen. Sie sah Schwester Manu herbeilaufen, Schwester Etini und sämtliche Fischer aus der Gegend.
»Schau!« Hiro lenkte Almas Blick Richtung Meer. »Tomorrow Morning kommen!«
Alma sah
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