Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
rastlosen, ziellosen Spielens widmen konnten.
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Die Regenzeit ging zu Ende. Alma war nun seit fast einem Jahr auf Tahiti. Sie entfernte das faulige Gras vom Boden ihres Häuschens und verteilte abermals frisches Gras darauf. Sie stopfte ihre modrige Matratze mit frischem, trockenem Stroh aus. Sie sah zu, wie die Eidechsenpopulation sich wieder verringerte, während die Tage immer heller und milder wurden. Sie bastelte sich einen neuen Besen und entfernte die Spinnweben von den Wänden. Eines Morgens, beseelt von dem Wunsch, sich noch einmal ihrer eigenen Mission zu vergewissern, öffnete sie Ambroses Koffer, um sich die Zeichnungen des Knaben anzusehen, und musste entdecken, dass sie während der Regenzeit vollkommen von Schimmel zerfressen worden waren. Sie wollte die einzelnen Blätter voneinander lösen, doch sie zerfielen ihr zwischen den Händen zu kleistrigen grünlichen Einzelteilen. Anscheinend hatte sich auch eine Motte in den Zeichnungen eingenistet und sich an den Krümeln gütlich getan. Alma konnte sie nicht retten. Vom Gesicht des Knaben war nichts mehr zu erkennen und auch kein einziger von Ambroses schönen Zeichenstrichen. Die Insel hatte die letzte, verbliebene Spur ihres unerklärlichen Ehemanns und seiner schimärenhaften männlichen Muse verschlungen.
Der Zerfall der Zeichnungen war für Alma wie ein weiterer Todesfall: Nun war selbst das Phantom von ihr gegangen. Sie wollte weinen und begann sogar, an ihrem Urteilsvermögen zu zweifeln. In den vergangenen zehn Monaten hatte sie so viele Gesichter hier auf Tahiti gesehen, doch nun fragte sie sich, ob sie überhaupt fähig gewesen wäre, den Knaben zu erkennen, selbst wenn er direkt vor ihr gestanden hätte. Vielleicht hatte sie ihn ja längst gesehen? Hätte er nicht unter den jungen Männern am Hafen von Papeete sein können, die sie dort an ihrem Ankunftstag erblickt hatte? Konnte sie nicht schon zahllose Male an ihm vorbeigegangen sein? Lebte er womöglich sogar hier in der Missionssiedlung, und sie war einfach nicht mehr empfänglich für sein Gesicht? Ihr blieb ja nichts, um ihre Erinnerungen abzugleichen. Der Knabe hatte ohnehin kaum existiert, und nun existierte er gar nicht mehr. Alma schloss den Koffer, als schlösse sie den Deckel eines Sargs.
Sie konnte nicht länger auf Tahiti bleiben. Das wusste sie ohne jeden Zweifel. Sie hätte gar nicht erst herkommen dürfen. Was hatte es sie an Energie und Entschlossenheit gekostet, auf diese Insel der Rätsel zu reisen, und nun saß sie hier fest, völlig grundlos, und fiel dieser kleinen Gemeinschaft aus aufrechten Seelen zur Last, aß ihr Essen, beanspruchte ihren Lebensraum und spannte ihre Kinder für ihre eigenen unverantwortlichen Zwecke ein. Wahrhaft gelungen, in was für eine Lage sie sich da hineinmanövriert hatte! Alma glaubte, jede Verbindung zum Sinn ihres Lebens verloren zu haben, so schwach diese Verbindung auch gewesen sein mochte. Sie hatte ihre eintönigen, aber ehrbaren Moosstudien abgebrochen, um sich auf die aussichtslose Jagd nach einem Gespenst zu begeben – genauer gesagt nach zwei Gespenstern: Ambrose und dem Knaben. Und wozu? Sie wusste nicht mehr über Ambrose als vor einem Jahr. Alle Berichte hier auf Tahiti erklärten ihren Mann übereinstimmend zu dem, was er immer schon zu sein schien: eine sanfte, freundliche, tugendhafte Seele, unfähig zu jeglicher Missetat und viel zu gut für diese Welt.
Nach und nach dämmerte die Erkenntnis in Alma herauf, dass es den Knaben vermutlich nie gegeben hatte. Andernfalls hätte sie ihn doch längst gefunden, oder jemand hätte von ihm erzählt – wenn auch nur in Andeutungen. Ambrose musste ihn erfunden haben. Dieser Gedanke war trauriger als alles, was Alma sich je hätte ausmalen können. Der Knabe war das Hirngespinst eines Einsamen mit einem verwirrten Geist. Ambrose musste sich so verzweifelt nach einem Gefährten gesehnt haben, dass er sich einen gezeichnet hatte. Mit diesem erfundenen Freund – diesem wunderschönen Phantom-Geliebten – hatte er endlich die geistige Vereinigung gefunden, nach der es ihn stets verlangt hatte. Das schien beileibe nicht abwegig. Schließlich war es um Ambroses Verstand schon unter idealen Gegebenheiten allenfalls labil bestellt gewesen! Hatte nicht sein bester Freund ihn in eine Irrenanstalt einweisen lassen, hatte er selbst nicht geglaubt, in der Pflanzenwelt Gottes Fingerabdruck erkennen zu können? Ambrose war ein Mensch gewesen, der Engel in Orchideen sah, mehr noch, sich
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