Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Sie ertrug es nicht mehr, immer neue Theorien aufzustellen. Fast schien es ihr, als hätte sie ihr ganzes Leben in einem Zustand der Spekulation verbracht. Sie hatte sich doch immer nur nach Wissen gesehnt, und doch tat sie nach so vielen Jahren nimmermüden Fragens nichts anderes als Sinnen, Spinnen und Spintisieren.
Schluss mit den Spekulationen. Endgültig Schluss damit. Jetzt musste sie alles wissen. Sie würde darauf bestehen, alles zu erfahren.
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Alma hörte die Messe, noch ehe sie die Kirche erreicht hatte. Nie zuvor hatte sie solchen Gesang vernommen, wie er nun aus dem bescheidenen Bauwerk nach draußen drang. Es war etwas wie Jubelgeschrei. In der Kirche war kein Platz mehr für sie, doch sie blieb draußen inmitten der drängelnden, singenden Menge stehen und lauschte. Die Lieder, die sie bisher in dieser Kirche gehört hatte – gesungen von den achtzehn Kirchgängern aus der Missionssiedlung des Reverend –, wirkten dünn und schwachbrüstig im Vergleich zu dem, was sie jetzt hörte. Zum ersten Mal begriff sie, wie die tahitianische Musik eigentlich gedacht war und warum es dazu mehrerer hundert Stimmen bedurfte, die vereint donnerten und dröhnten und alle nur einem Zweck dienten: den Ozean zu übertönen. Genau das taten diese Menschen hier, in einer lärmenden Darbietung ihrer Verehrung, die ebenso schön wie bedrohlich klang.
Schließlich wurde es stiller, und Alma hörte, wie ein Mann mit klarer, kraftvoller Stimme zu der Versammlung sprach. Er sprach Tahitianisch, und seine Ansprache wirkte an mancher Stelle fast wie ein Gesang. Alma arbeitete sich bis zur Tür vor und spähte in die Kirche hinein: Es war Tomorrow Morning, der hochgewachsen und in ganzer Herrlichkeit an der Kanzel stand und mit erhobenen Armen auf seine Zuhörer einredete. Ihr Tahitianisch reichte nicht aus, um der ganzen Predigt zu folgen, doch sie verstand, dass dieser Mann leidenschaftlich Zeugnis vom lebendigen Christus ablegte. Doch das war längst nicht alles: Er spielte auch mit den versammelten Menschen, so wie Alma es häufig bei Hiro und Konsorten beobachtet hatte, wenn sie mit den Wellen spielten. Sein Eifer und seine Kraft waren unermesslich. Er rang der Versammlung Gelächter und Tränen ab, tiefen Ernst und ausgelassene Freude, und Alma spürte, wie der Klang und die Intensität seiner Stimme auch ihre Gefühle mit sich riss, obwohl ihr seine Worte weitgehend unverständlich blieben.
Tomorrow Mornings Auftritt dauerte weit über eine Stunde. Er ließ seine Zuhörer singen, er ließ sie beten und hatte sie, so schien es, beinahe so weit, im Morgengrauen zum Angriff zu blasen. Und Alma dachte: Das wäre meiner Mutter zutiefst zuwider gewesen . Für missionarischen Eifer hatte Beatrix Whittaker keinen Sinn gehabt; sie war der festen Überzeugung gewesen, dass Menschen im religiösen Wahn ernsthaft Gefahr liefen, ihre Manieren zu vergessen, und wie wäre es dann um die Zivilisation bestellt? Wie dem auch sein mochte, eine Predigt wie diese mitreißende Ansprache hatte Alma in der kleinen Kirche des Reverend noch nie gehört – und auch an keinem anderen Ort. Dies war kein lutheranischer Pfarrer aus Philadelphia, der pflichtschuldigst seine heiligen Lehren verbreitete. Dies war Kriegsgetrommel. Dies war Demosthenes, der den Ktesiphon verteidigte. Dies war Perikles, der die Toten von Athen ehrte. Dies war Cicero, der Catilina anklagte.
Keinesfalls jedoch war Tomorrow Mornings Ansprache dazu angetan, Alma mit der Demut und Milde zu erfüllen, die sie inzwischen so sehr mit dieser bescheidenen kleinen Mission am Meer verband. Tomorrow Morning besaß nichts Demütiges oder Mildes. Im Gegenteil, sie hatte nie zuvor solch einen kühnen, selbstgewissen Menschen erlebt. Alma musste an ein Zitat von Cicero denken, das ihr in seinem altvertrauten, kraftvollen Latein durch den Sinn ging – der einzigen Sprache, wie sie fand, die es mit diesem donnernden Schwall tahitianischer Rednerkunst aufzunehmen vermochte, deren Zeugin sie hier war: »Nemo umquam neque poeta neque orator fuit, qui quemquam meliorem quam se arbitraretur.«
Nie gab es einen Dichter oder Redner, der einen anderen für besser gehalten hätte als sich selbst.
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Es wurde ein Tag der erhitzten Gemüter.
Mit Hilfe des überaus effizienten tahitianischen Telegraphensystems (flinke Knaben mit lauten Stimmen) verbreitete sich die Nachricht von Tomorrow Mornings Ankunft wie ein Lauffeuer, und am Strand der Matavai-Bucht wurde es stündlich voller und
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