Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
hinaus auf die Bucht und konnte dort – wieso war ihr das nicht sofort aufgefallen? – eine kleine Flotte langer Kanus ausmachen, die mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit, vorangetrieben von Dutzenden dunkelhäutiger Ruderer, durch das Wasser pflügten und auf den Strand zuhielten. In ihrer ganzen Zeit auf Tahiti hatte Alma nie aufgehört, darüber zu staunen, wie kraftvoll und wendig diese Kanus waren. Wenn eine Flotte wie diese die Bucht durchquerte, hatte sie stets das Gefühl, der Ankunft Jasons und seiner Argonauten beizuwohnen oder der Flotte des Odysseus. Besonders gefiel ihr jener Moment, wenn die Ruderer, schon fast am Ufer, ihre Muskeln zu einer letzten Anstrengung spannten und das Kanu, wie von einem riesigen unsichtbaren Bogen herangeschleudert, mit atemberaubendem Schwung aus dem Wasser schoss und auf dem Sand zu liegen kam.
Alma hätte gern noch mehr gefragt, doch Hiro war bereits mit der übrigen Menge davongeeilt, um die Kanus willkommen zu heißen. Nie zuvor hatte Alma so viele Menschen am Strand gesehen. Von der allgemeinen Aufregung angesteckt, lief auch sie den Booten entgegen. Es waren auffallend schöne, beinahe majestätische Kanus. Das größte maß gut und gerne sechzig Fuß, und im Bug stand ein Mann von eindrucksvoller Statur und Größe – ganz offensichtlich der Anführer dieser Expedition. Er war Tahitianer, doch als Alma näher kam, sah sie, dass er tadellos nach Art eines Europäers gekleidet war. Die Dorfbewohner umringten ihn, stimmten Willkommenslieder an und hoben ihn aus seinem Kanu wie einen König.
Sie trugen den Fremden Reverend Welles entgegen, und die beiden Männer umarmten einander. Alma drängte sich durch die Reihen, so nah heran, wie sie nur konnte. Der Mann beugte sich herab und drückte seine Nase an die des Reverend, ein traditioneller Willkommensgruß, der tiefempfundene Zuneigung ausdrückte. Und Alma hörte Reverend Welles mit tränenfeuchter Stimme sagen: »Sei willkommen in deiner Heimat, du gesegneter Sohn Gottes.«
Der Fremde löste sich wieder aus der Umarmung. Er wandte sich lächelnd der Menge zu, und nun sah Alma ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht. Hätte sie nicht dicht gedrängt zwischen zahllosen Menschen gestanden, der Schock des Erkennens hätte sie vermutlich zu Boden gestreckt.
Die Worte »tomorrow morning«, die Ambrose auf die Rückseite all seiner Zeichnungen des Knaben geschrieben hatte, waren kein geheimer Code gewesen, kein verträumter Wunsch nach einer idealisierten Zukunft, auch kein Anagramm oder sonst ein verstiegener Versuch der Verschleierung. Dieses eine Mal in seinem Leben war Ambrose Pike ganz direkt und offen gewesen: »Tomorrow Morning« war schlicht und einfach ein Name.
Und nun war Tomorrow Morning tatsächlich da.
•
Sie war wütend.
Darin bestand ihre allererste Reaktion. Warum hatte kein Mensch ihn je erwähnt – diese majestätische Gestalt, diesen bewunderten Besucher, diesen Mann, der den ganzen Norden Tahitis dazu brachte, am Ufer zusammenzulaufen und ihm zuzujubeln? Wie kam es, dass sein Name nie gefallen war, nicht einmal beiläufig? Niemand hatte Alma gegenüber je die Worte »Tomorrow Morning« verwendet, wenn es nicht gerade um Planungen für den kommenden Tag ging, und erst recht hatte nie jemand von der inselumspannenden Bewunderung für einen nachgerade mythischen, attraktiven Eingeborenen gesprochen, der eines Tages wie aus dem Nichts erscheinen und angebetet werden würde. Nicht einmal Gerüchte über einen solchen Menschen hatte es gegeben. Wie konnte ein derart bedeutender Mann einfach so auftauchen?
Während die übrige Menge sich wie ein jubelndes, johlendes Ganzes zur Missionskirche wälzte, blieb Alma still am Strand zurück und versuchte, das alles zu begreifen. Neue Fragen traten an die Stelle alter Überzeugungen. Was sie noch letzte Woche für sicher und unumstößlich gehalten hatte, brach nun auf wie ein Eisdamm bei Frühlingsbeginn. Das Trugbild, das sie gesucht hatte, war tatsächlich vorhanden, doch es war kein Knabe; vielmehr schien es sich um eine Art König zu handeln. Was hatte Ambrose mit einem Inselkönig zu schaffen gehabt? Wie hatten sie sich kennengelernt? Und warum hatte Ambrose Tomorrow Morning als einfachen Fischer gezeichnet, wenn er doch ganz offensichtlich ein Mann von beträchtlicher Macht war?
Schon nahm der hartnäckige, unerbittliche Spekulationsapparat in Almas Innerem die Arbeit wieder auf. Das machte sie nur noch wütender. Sie war des Spekulierens so müde.
Weitere Kostenlose Bücher