Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
etwas unbeholfenes Zusammentreffen, denn Alma stand, und die beiden Männer blieben, den örtlichen Gebräuchen entsprechend, sitzen. Alma wollte sich nicht setzen. Sie wollte auch ihre Nase nicht an fremder Leute Nasen drücken. Doch Tomorrow Morning streckte ihr einen langen Arm entgegen und reichte ihr höflich die Hand.
»Schwester Whittaker«, sagte der Reverend, »dies ist mein Sohn, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe. Mein lieber Sohn, dies ist Schwester Whittaker, nicht wahr, die gerade aus Amerika bei uns zu Besuch ist. Sie ist eine angesehene Naturforscherin.«
»Naturforscherin?«, fragte Tomorrow Morning mit makellosem britischem Akzent und nickte interessiert. »Als Kind hatte ich eine große Vorliebe für die Naturgeschichte. Meine Freunde hielten mich für verrückt, weil ich Dinge wertschätzte, denen sonst niemand einen Wert beimaß: Blätter, Insekten, Korallen und dergleichen. Doch mir war es Freude und Bildung zugleich. Was für eine wertvolle Lebensaufgabe, die Welt so eingehend zu studieren! Sie müssen sich in Ihrer Berufung glücklich schätzen.«
Alma sah ihn an. Es überwältigte sie, sein Gesicht endlich aus nächster Nähe zu sehen – dieses unvergessliche Gesicht, das sie schon so lange verstörte und faszinierte, dieses Gesicht, das sie geradewegs ans andere Ende der Welt geführt hatte, dieses Gesicht, das sich so beharrlich ihrer Vorstellungskraft bemächtigt und sie fast in den Wahnsinn getrieben hatte. So ungeheuerlich war die Wirkung, die sein Gesicht auf sie ausübte, dass sie kaum begriff, warum er seinerseits nicht ebenso fassungslos war, sie zu sehen. Wie war es möglich, dass er ihr so vertraut war, sie ihm jedoch gänzlich unbekannt?
Doch wie in aller Welt hätte es denn anders sein können?
Er erwiderte seelenruhig ihren Blick. Seine Wimpern waren so lang, dass es ein Unding schien. Es wirkte nicht nur übertrieben, sondern geradezu herausfordernd, dieses Wimpern-Spektakel, diese unnötige, üppige Zierde. Alma spürte Zorn in sich aufwallen. Kein Mensch brauchte Wimpern wie diese.
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte sie.
Mit staatsmännischer Verbindlichkeit erwiderte Tomorrow Morning, die Freude sei ganz seinerseits. Dann gab er ihre Hand wieder frei, Alma entschuldigte sich, und Tomorrow Morning widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Reverend – seinem überglücklichen, elfenhaft zierlichen, weißen Vater.
•
Er blieb vierzehn Tage.
Alma ließ ihn keinen Moment aus den Augen, um durch stete Beobachtung und Nähe alles über ihn zu erfahren, was sie nur zu erfahren vermochte. Vor allem erfuhr sie eines, und das schon bald: Tomorrow Morning war beliebt. Fast war es schon ermüdend zu sehen, wie beliebt er war. Nicht einen Augenblick blieb er allein, während Alma just auf solch einen Augenblick lauerte, um eine Unterredung unter vier Augen mit ihm zu führen. Doch der rechte Zeitpunkt dafür schien nicht kommen zu wollen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit wurden Mahlzeiten, Besprechungen, Versammlungen und Feierlichkeiten mit ihm abgehalten. Er nächtigte in Schwester Manus Haus, und dort gingen ständig Besucher ein und aus. Königin Aimata Pomaré VI. lud Tomorrow Morning zum Tee in ihren Palast nach Papeete ein. Sei es auf Englisch, Tahitianisch oder beiden Sprachen zugleich – alle wollten die Geschichte von Tomorrow Mornings ungeheuren Erfolgen als Missionar auf Raiatea hören.
Und niemand wollte das mehr als Alma, der es im Laufe von Tomorrow Mornings Aufenthalt immerhin gelang, sich die Geschichte aus den Äußerungen verschiedener Zaungäste und Bewunderer des großen Mannes zusammenzureimen. Raiatea, so erfuhr sie, galt als Wiege der polynesischen Mythologie und damit als der Ort, von dem man eine Bekehrung zum Christentum am wenigsten erwartete. Die große, zerklüftete Insel war der Geburts- und Wohnort des Kriegsgotts Oro, dessen Tempel mit Menschenopfern geweiht wurden und mit Totenschädeln gepflastert waren. Raiatea war ein grimmiger Ort – Schwester Etini nannte ihn sogar »bedrückend«. Der Berg Temahani im Zentrum der Insel galt als ewige Heimat aller Toten Polynesiens. Man erzählte sich, dass sein höchster Gipfel stets in dichte Nebelschwaden gehüllt sei, denn den Toten missfalle das Sonnenlicht. Die Bewohner Raiateas waren kein fröhliches Volk; sie waren ein gestrenges Volk, blutrünstig und erhaben. Sie waren nicht wie die Tahitianer. Sie hatten sich den Engländern widersetzt. Sie hatten sich den Franzosen
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