Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Missionsschule an der Matavai-Bucht, die inzwischen selbst angesehene Missionen auf diversen benachbarten Inseln leiteten. Alma bemühte sich redlich, sich an diese lange zurückliegende Unterredung in Einzelheiten zu erinnern, doch ihr Gedächtnis ließ sie schmählich im Stich. Gut möglich, dass Raiatea unter den erwähnten Inseln gewesen war, der Name »Tomorrow Morning« war nicht gefallen, dessen war sie gewiss. Die Worte hätten sie doch aufhorchen lassen. Nein, Alma hatte diesen Namen nie zuvor gehört. Der Reverend musste ihn bei einem anderen Namen genannt haben.
Schwester Etini eilte erneut vorbei, diesmal mit leeren Händen, und wieder sprang Alma ihr nach und hielt sie auf. Sie wusste, wie lästig sie Etini fiel, doch sie konnte schlichtweg nicht anders.
»Schwester Etini«, sagte sie. »Wie heißt Tomorrow Morning?«
Schwester Etini musterte sie erstaunt. »Er heißt Tomorrow Morning«, gab sie zur Antwort.
»Aber wie nennt ihn Bruder Welles?«
»Ach!« Schwester Etinis Blick klarte auf. »Bruder Welles nennt ihn bei seinem tahitianischen Namen, Tamatoa Mare. Tomorrow Morning ist sein Spitzname, den er selbst für sich ersonnen hat, als er noch ein kleiner Junge war! Ihm ist es lieber, wenn man ihn so nennt. Er tat sich immer so leicht mit Sprachen, Schwester Whittaker – der beste Schüler, den Mrs Welles und ich jemals hatten. Sie werden sehen, er spricht viel besser Englisch als ich, und er hat schon von frühester Kindheit an begriffen, dass sein tahitianischer Name ähnlich klingt wie die englischen Worte. Er war immer sehr aufgeweckt. Und heute passt dieser Name zu ihm, da sind wir uns alle einig, denn er bringt neue Hoffnung, verstehen Sie – jedem, dem er begegnet. So wie ein neuer Tag.«
»Wie ein neuer Tag«, wiederholte Alma.
»Ja, ganz recht.«
»Schwester Etini«, sagte Alma. »Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen noch eine letzte Frage stellen. Wann war Tamatoa Mare zum letzten Mal hier in der Matavai-Bucht?«
Schwester Etini zögerte keine Sekunde. »Im November 1850.«
Damit eilte sie davon. Alma setzte sich wieder in den Schatten und betrachtete das fröhliche Treiben ringsum. Sie betrachtete es ohne jede Freude. Sie spürte einen Druck auf dem Herzen, als presste jemand seinen Daumen hinein, um einen tiefen, starken Abdruck zu hinterlassen.
Denn im November 1850 war Ambrose Pike hier gestorben.
•
Es kostete Alma geraume Zeit, sich Tomorrow Morning zu nähern. An jenem Abend wurde ein gewaltiges Fest gefeiert – ein Festmahl, das eines Herrschers würdig gewesen wäre, und als solcher wurde dieser Mann ja auch betrachtet. Hunderte Tahitianer drängten sich am Strand, verzehrten Schweinebraten, Fisch und Brotfrucht und aßen Pfeilwurzbrei, Yamswurzeln und zahllose Kokosnüsse. Freudenfeuer wurden entzündet, und die Menschen tanzten – wenngleich natürlich nicht jene lasziven Tänze, für die Tahiti einst berüchtigt gewesen war, sondern den züchtigsten traditionellen Tanz, den sie hura nannten. In anderen Missionssiedlungen auf der Insel wäre nicht einmal der gestattet worden, doch Alma wusste, dass Reverend Welles ihn hin und wieder zuließ. (»Es kann ja schließlich nicht schaden«, hatte er Alma einmal erklärt, und sie fand, dass dieser häufig geäußerte Satz Reverend Welles in vollendeter Weise umschrieb.)
Alma hatte dem Tanz noch nie beigewohnt, und er schlug sie nun ebenso in seinen Bann wie alle anderen. Die jungen Tänzerinnen hatten sich das Haar mit Jasminranken und Gardenienblüten geschmückt und trugen Blumen um den Hals. Die Musik klang langsam und schmeichelnd. Manche der Mädchen hatten Pockennarben im Gesicht, doch im Feuerschein waren sie alle gleichermaßen schön. Und selbst unter den langärmeligen, formlosen, von der Mission verordneten Kleidern vermochte man noch zu erahnen, wie sich die Glieder und Hüften der Frauen bewegten. Es war ganz gewiss der aufreizendste Tanz, den Alma je gesehen hatte (allein die Handbewegungen waren aufreizend, wie sie staunend bemerkte), und sie konnte sich beim besten Willen nicht ausmalen, wie dieser Tanz damals, im Jahre1777 , als die Frauen ihn nur mit Baströcken bekleidet zur Vorführung brachten, auf ihren Vater gewirkt haben musste. Welch ein Anblick für einen jungen Mann aus Richmond, der sich seine Tugend bewahren wollte!
Bisweilen sprang ein athletischer junger Mann in den Kreis der Tänzerinnen und unterbrach den hura mit einer lustigen, possenhaften Darbietung. Anfangs glaubte Alma, dies sei
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