Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
lebhafter. Alma versuchte, Reverend Welles einen Moment aufzuhalten, weil sie zahllose Fragen an ihn hatte, doch seine kleine Gestalt verschwand immer wieder in der Menge, und sie sah ihn nur hin und wieder von weitem, das weiße Haar vom Wind zerzaust, strahlend vor Glück. Auch an Schwester Manu kam Alma nicht heran: Die ehrwürdige Dame war so außer sich, dass sie ihren großen Strohhut verloren hatte, und stand schluchzend wie ein Schulmädchen inmitten einer Gruppe schnatternder, verzückter Frauen. Hiro und Konsorten waren nirgends zu sehen – oder besser gesagt überall zu sehen, sie stoben aber stets so schnell wieder davon, dass Alma ihrer nicht habhaft werden konnte, um sie zu befragen.
Dann wurde aus der Massenversammlung am Strand wie durch einen einzigen, einvernehmlichen Entschluss ein Freudenfest. Man schaffte Platz für Ringkämpfe und Boxturniere. Die jungen Männer streiften ihre Hemden ab, rieben sich mit Kokosöl ein und begannen ihre Rangeleien. Kinder flitzten in spontanen Wettrennen die Küste entlang. Ein Ring wurde in den Sand gezogen, und plötzlich war ein Hahnenkampf in vollem Gange. Später am Tag rückten Musiker an, die von tahitianischen Trommeln und Flöten bis hin zu europäischen Hörnern und Geigen alle nur erdenklichen Instrumente bei sich hatten, und alsbald wurde laute Musik angestimmt. Andernorts hoben emsige Männer eine Feuergrube aus und kleideten sie mit Steinen aus. Anscheinend bereiteten sie ein großes Bratgelage vor. Und dann sah Alma auf einmal – wie aus dem Nichts – Schwester Manu, die ein Schwein einfing, es festhielt und tötete – sehr zum Missvergnügen des Tieres. Alma konnte sich bei dem Anblick einen gewissen Groll nicht verkneifen. (Wie lange hoffte sie schon auf einen Bissen Schweinefleisch! Und dann brauchte nur Tomorrow Morning einzutreffen, schon geschah es.) Mit geschickter Hand und einem langen Messer zerlegte Schwester Manu frohgemut das Schwein. Mit der Handbewegung einer Frau, die Zuckerstangen dreht, zog sie ihm die Eingeweide heraus. Dann hielt sie, zusammen mit ein paar anderen, kräftigeren Frauen, das tote Schwein über das offene Feuer, um ihm die Borsten wegzubrennen. Anschließend wickelten sie es in Blätter und legten es auf die heißen Steine. Eine größere Anzahl Hühner folgte dem Schwein in den Tod; auch sie konnten sich dieser Flutwelle ausgelassenen Feierns nicht erwehren.
Alma sah die hübsche Schwester Etini vorbeieilen, die Arme voller Brotfrüchte. Sie sprang ihr nach, fasste sie an der Schulter und fragte: »Schwester Etini, bitte sagen Sie mir doch: Wer ist Tomorrow Morning?«
Etini wandte sich mit strahlendem Lächeln zu ihr um. »Er ist der Sohn von Reverend Welles«, sagte sie.
»Der Sohn von Reverend Welles?«, wiederholte Alma. Der Reverend hatte doch nur Töchter – und nur eine Tochter, die noch am Leben war. Hätte Schwester Etini nicht so fehlerfrei und fließend Englisch gesprochen, Alma hätte geglaubt, die Frau habe sich falsch ausgedrückt.
»Sein taio -Sohn«, erläuterte Etini. »Tomorrow Morning ist der angenommene Sohn des Reverend Welles. Er ist auch mein Sohn und der von Schwester Manu. Er ist der Sohn der ganzen Missionssiedlung! Wir alle sind seine taio -Familie!«
»Aber wo kommt er denn her?«, wollte Alma wissen.
»Er kommt von hier«, sagte Etini und konnte nicht verhehlen, mit welchem Stolz dieser Umstand sie erfüllte. »Tomorrow Morning gehört zu uns, nicht wahr.«
»Aber woher kam er heute, bei seiner Ankunft?«
»Er kam von Raiatea, wo er jetzt lebt. Dort leitet er seine eigene Mission. Er konnte auf Raiatea, einer Insel, die dem wahren Gott lange Zeit höchst feindselig gegenüberstand, große Erfolge verzeichnen. Die Leute, die ihn heute begleitet haben, das sind seine Konvertiten – oder einige seiner Konvertiten. Selbstverständlich hat er noch etliche mehr.«
Und Alma hatte selbstverständlich noch etliche Fragen mehr, doch Schwester Etini wollte sich um das Festmahl kümmern, und so dankte Alma ihr nur und ließ sie ziehen. Sie setzte sich in den Schatten eines Guavenbuschs am Fluss, um nachzudenken. Es gab schließlich vieles, worüber es nachzudenken, was es einzuordnen galt. Im verzweifelten Bemühen, all diesen erstaunlichen neuen Fakten einen Sinn zu verleihen, dachte sie an eine Unterhaltung, die sie vor Monaten mit Reverend Welles geführt hatte. Er hatte ihr damals von seinen drei angenommenen Söhnen erzählt – den drei musterhaftesten Absolventen der
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