Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
bewahrt hatten. Während er den Frauen zusah, wie sie sich auf den Ball und aufeinander stürzten, wirkte Reverend Welles ganz und gar nicht mehr wie ein harmloser kleiner Elf; er erinnerte vielmehr an einen furchtlosen kleinen Terrier.
Und dann, wie aus dem Nichts, wurde Alma von einem Pferd überrannt.
So kam es ihr zumindest vor. Doch es war kein Pferd, das sie zu Boden gerissen hatte – es war Schwester Manu, die vom Spielfeld herbeigerannt kam und Alma in vollem Lauf rammte. Schwester Manu packte sie am Arm und zerrte sie auf das Spielfeld. Die Menge war begeistert. Das Gejohle wurde immer lauter. Alma erhaschte einen Blick auf Reverend Welles, dessen Augen vor Entzücken über diese unerwartete Wendung funkelten und der seine Freude laut herausbrüllte. Sie sah zu Tomorrow Morning hinüber, der sich weiterhin höflich und reserviert gab. Er war viel zu sehr der majestätische Würdenträger, um über eine solche Bloßstellung zu lachen, aber er missbilligte sie auch nicht.
Alma legte keinen Wert darauf, haru raa puu zu spielen, doch niemand fragte nach ihren Wünschen. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, war sie bereits mitten im Spiel. Sie glaubte, von allen Seiten angegriffen zu werden, was sicherlich damit zusammenhing, dass sie tatsächlich von allen Seiten angegriffen wurde. Jemand drückte ihr den Ball in die Hand und gab ihr einen Schubs. Es war Schwester Etini.
» LAUF !«, schrie sie.
Und Alma lief. Sie kam nicht allzu weit, ehe sie erneut zu Boden gerissen wurde. Jemand hatte ihr einen Ellbogen in die Kehle gerammt, und sie landete auf dem Rücken. Im Fallen biss sie sich auf die Zunge, schmeckte Blut. Einen Moment lang erwog sie, einfach im Sand liegen zu bleiben, um sich weitere Verletzungen zu ersparen, doch dann fürchtete sie, von der erbarmungslosen Horde niedergetrampelt zu werden. Die Menge jubelte erneut. Alma blieb keine Zeit zum Nachdenken. Sie geriet in ein Gedränge aus rangelnden Frauen und war gezwungen, in dieselbe Richtung zu laufen wie die anderen. Wo der Ball war, wusste sie nicht. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass irgendjemand sonst dies wusste. Einen Augenblick später befand sie sich plötzlich im Wasser. Wieder wurde sie umgerissen. Sie tauchte keuchend auf, Salzwasser in den Augen und in der Kehle. Jemand drängte sie weiter, tiefer ins Meer hinein.
Nun bekam sie es ernsthaft mit der Angst zu tun. Wie alle Tahitianer hatten auch diese Frauen das Schwimmen noch vor dem Laufen erlernt, doch Alma fühlte sich im Wasser weder wohl, noch beherrschte sie die nötigen Bewegungen. Ihr Rock war durchnässt und schwer, was sie noch mehr ängstigte. Die Wellen waren zwar nicht besonders hoch, dennoch waren es eindeutig Wellen, und sie schwappten über Alma hinweg. Der Ball traf sie am Ohr; sie hatte nicht gesehen, von wo er geworfen wurde. Jemand nannte sie eine poreito – ein Wort, das eigentlich Schalentiere bezeichnete, im umgangssprachlichen Gebrauch aber ein vulgärer Ausdruck für das weibliche Geschlechtsorgan war. Womit hatte Alma eine solche Beleidigung verdient?
Dann war sie wieder unter Wasser, umgerissen von drei Frauen, die über sie hinweglaufen wollten. Es gelang ihnen auch: Sie liefen über sie hinweg. Eine von ihnen stieß sich mit den Füßen von Almas Brust ab, nutzte Almas Körper als Sprungbrett wie einen Felsen mitten in einem See. Eine weitere trat ihr ins Gesicht, und Alma war sich sicher, dass sie ihr die Nase brach. Sie kämpfte sich wieder an die Oberfläche, schnappte nach Luft, spuckte Blut. Sie hörte, wie jemand sie pua’a schimpfte – Schwein. Dann wurde sie erneut unter Wasser gestoßen. Diesmal war sie überzeugt, dass es mit Absicht geschah: Zwei kräftige Hände hatten ihr von hinten den Kopf nach unten gedrückt. Erneut tauchte sie auf, sah den Ball an sich vorbeifliegen. Gedämpft hörte sie das Geschrei der Menge. Wieder wurde sie überrannt. Wieder ging sie unter. Und als sie diesmal wieder auftauchen wollte, gelang es ihr nicht: Da saß wahrhaftig jemand auf ihr.
Und dann geschah etwas Unmögliches: Die Zeit blieb stehen. Mit offenen Augen, offenem Mund und einer Nase, die sich blutend in die Matavai-Bucht verströmte, hilflos und unbeweglich unter Wasser, erkannte Alma, dass sie sterben würde. Zu ihrem eigenen Schrecken wurde sie vollkommen ruhig. So schlimm, dachte sie, war es doch gar nicht. Es schien sogar ganz einfach. Es gab nichts Leichteres als diesen gefürchteten Tod, vor dem man stets davonlief, wenn man ihm einmal
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