Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
ins Auge sah. Um zu sterben, musste man einfach nur aufhören, weiterleben zu wollen. Man musste sich ins Verschwinden fügen. Wenn Alma einfach unter dem Gewicht der unbekannten Gegnerin stillhielt, dann würde sie ohne jede Anstrengung ausgelöscht. Und mit dem Tod hätte auch alles Leiden ein Ende. Aller Zweifel hätte ein Ende. Alle Scham, alle Reue hätten ein Ende und auch all ihre Fragen. Sie könnte sich ganz unauffällig aus dem Leben zurückziehen. Ambrose hatte sich schließlich auch zurückgezogen. Was musste ihm das für eine Erleichterung gewesen sein! Da hatte sie Ambrose wegen seines Selbstmords bemitleidet, dabei musste er sich doch wunderbar erlöst gefühlt haben! Sie hätte ihn beneiden sollen! Und nun konnte sie ihm dorthin folgen, direkt in den Tod. Welchen Grund hatte sie noch, nach Luft zu schnappen? Welchen Sinn hatte es, zu kämpfen?
Sie wurde noch ruhiger.
Sie sah ein sanftes Licht.
Es war, als würde sie zu etwas Wunderbarem aufgefordert. Als würde sie gerufen. Und sie dachte an die letzten Worte ihrer Mutter auf dem Sterbebett: »Het is fijn.«
Es ist schön.
Doch dann – in den Sekunden, die ihr noch blieben, bevor es zu spät war, überhaupt noch etwas zu unternehmen – wusste Alma plötzlich eines ganz genau. Sie wusste es mit jeder Faser ihres Wesens, es war eine unveräußerliche Tatsache: Sie, die Tochter von Henry und Beatrix Whittaker, war nicht auf diese Welt gekommen, um im kaum fünf Fuß tiefen, seichten Wasser zu ertrinken. Und noch etwas wusste sie: Wenn sie jemanden töten musste, um das eigene Leben zu retten, dann würde sie keinen Moment zögern. Und schließlich wusste sie ein Letztes, und das war womöglich die allerwichtigste Erkenntnis: Die Welt unterteilte sich ganz eindeutig in jene, die unerbittlich um ihr Leben kämpften, und jene, die aufgaben und starben. Das war eine schlichte Tatsache. Und sie galt nicht nur für die Menschen, sondern für jede Art von Lebewesen auf Erden, von der größten Kreatur bis hin zur niedrigsten. Sogar für die Moosgewächse galt sie. Sie war der Mechanismus, der der Natur innewohnte – die Triebkraft hinter allem Leben, allen Veränderungen –, und sie war die Erklärung für die ganze Welt. Sie war die Erklärung, nach der Alma immer gesucht hatte.
Sie stieg aus dem Wasser empor. Sie warf die Frau, die auf ihr saß, beiseite, als wäre sie ein Nichts. Mit blutender Nase, tränenden Augen, verstauchtem Handgelenk und gequetschter Brust stieg sie empor und atmete gierig ein. Sie sah sich nach der Person um, die sie unter Wasser gedrückt hatte. Es war ihre liebe Freundin Schwester Manu, die furchtlose Riesin, deren Kopf von den vielen Narben der vielen schrecklichen Kämpfe ihres Lebens entstellt war. Manu lachte über Almas Miene. Es war ein nachsichtiges, vielleicht sogar kameradschaftliches Lachen, und doch war es ein Lachen. Alma packte Manu am Hals. Sie hielt die Freundin umklammert, als wollte sie ihr die Kehle zerquetschen. Und mit lauter, donnernder Stimme rief Alma, so wie Hiro und Konsorten es ihr beigebracht hatten:
»O VAU TEIE !
T OA HAU A ’ E TAU METUA I TA ’ OE !
E ’ ORE TAU ’ SOMORE E MAE QE IA ’ EO !«
» D AS HIER BIN ICH !
M EIN V ATER W AR EIN MÄCHTIGERER K RIEGE R ALS DEINER !
N ICHT EINM AL MEINEN S PEER KANNST DU TRAGEN ! «
Dann ließ Alma von ihr ab, löste den Griff um Schwester Manus Hals. Und ohne einen Augenblick zu zögern, brüllte ihr Manu einen ohrenbetäubenden Schrei der Anerkennung ins Gesicht.
Alma watete zum Strand zurück.
Sie nahm nichts und niemanden um sich her wahr. Ob ihr dort am Strand jemand zujubelte oder sie niederschrie, sie bemerkte nichts davon.
Mit großen Schritten entstieg sie dem Meer, als hätte es sie geboren.
Teil 5
Die Hüterin der Moose
Kapitel 27
Mitte Juli 1854 erreichte Alma Whittaker Holland .
Mehr als ein Jahr hatte sie auf See verbracht. Hinter ihr lag eine irrwitzige Reise – genauer gesagt, eine ganze Reihe irrwitziger Reisen. Sie hatte Tahiti im April 1853 auf einem französischen Frachtschiff mit Kurs auf Neuseeland verlassen. In Auckland musste sie zwei Monate ausharren, bis sich ein holländisches Handelsschiff fand, das bereit war, Alma als Passagierin mit nach Madagaskar zu nehmen, wohin sie in Gesellschaft einer größeren Herde Schafe und Rinder reiste. Von Madagaskar aus segelte sie weiter nach Kapstadt, an Bord einer ungemein altersschwachen holländischen fluyt – einem wahren Juwel der Schifffahrtstechnik des
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