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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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siebzehnten Jahrhunderts. (Es war die einzige Etappe ihrer Reise, auf der sie ernstlich um ihr Leben fürchtete.) Von Kapstadt aus arbeitete sie sich langsam an der Westküste des afrikanischen Kontinents entlang und bestieg in den Häfen von Accra und Dakar jeweils ein neues Schiff. In Dakar war es ein weiteres holländisches Handelsschiff, das zunächst nach Madeira fuhr, dann weiter nach Lissabon, durch den Golf von Biskaya und den Ärmelkanal und von dort den ganzen Weg bis nach Rotterdam. In Rotterdam schließlich erstand sie eine Fahrkarte für ein dampfbetriebenes Passagierschiff – den ersten Dampfer, auf dem sie je gereist war –, und dieser brachte sie an der holländischen Küste entlang über die Zuiderzee nach Amsterdam. Dort ging sie am 18. Juli 1854 endlich an Land.
    Almas Reise wäre womöglich zügiger und müheloser verlaufen, hätte sie nicht Roger den Hund bei sich gehabt. Doch das war nun einmal so, denn als der Moment gekommen war, von Tahiti Abschied zu nehmen, brachte sie es nicht übers Herz, ihn dort zurückzulassen. Wer sollte sich denn um den wenig liebenswerten Roger kümmern, wenn sie fort war? Wer würde riskieren, ihn zu füttern und sich dafür von ihm beißen zu lassen? Sie konnte auch nicht sicher sein, dass Hiro und Konsorten den Hund nicht verspeisen würden, sobald sie abgereist war. (Roger hätte zwar ohnehin keine allzu üppige Mahlzeit abgegeben, dennoch konnte Alma die Vorstellung nicht ertragen, dass man ihn am Spieß drehte.) Vor allem aber war er die letzte greifbare Verbindung zu ihrem Mann. Vermutlich war Roger bei Ambrose im fare gewesen, als er starb. Alma stellte sich vor, wie der treue kleine Hund in Ambroses letzten Stunden mitten im Zimmer Wache stand und alle Geister und Dämonen und sämtliche weiteren Schrecken, die mit gewaltiger Verzweiflung einhergehen, mit seinem Gebell in Schach hielt. Allein schon aus diesem Grund fühlte sich Alma moralisch verpflichtet, ihn mitzunehmen.
    Bedauerlicherweise begrüßten nur die wenigsten Kapitäne die Gegenwart eines vergrämten, buckligen, unwirschen kleinen Inselköters auf ihrem Schiff. Die meisten verweigerten Roger schlichtweg die Überfahrt, und diese Schiffe legten folglich ohne Alma ab, was ihre Reise gewaltig in die Länge zog. Und wenn sie sich einmal nicht weigerten, wurde Alma für das Privileg, Roger mitzunehmen, meist doppelt zur Kasse gebeten. Sie zahlte. Sie trennte eine weitere verborgene Naht am Saum ihres Reisekleids auf und entnahm ihm weitere Goldmünzen, eine nach der anderen. So ein letztes Bestechungsgeld brauchte man.
    Doch Alma empfand ihre über die Maßen verlängerte Reise nicht als belastend, im Gegenteil. Jede Stunde war ihr notwendig, und sie war froh über die langen Monate des Alleinseins auf fremden Schiffen und in fremden Häfen. Seit sie während des raubeinigen haru raa puu -Spiels in der Matavai-Bucht fast ertrunken war, balancierte Alma auf dem äußersten Grat ihres Denkens, wie sie es noch nie erlebt hatte, und sie wünschte nicht, dass ihre Gedankengänge gestört wurden. Die Idee, die dort unter Wasser mit solcher Wucht über sie gekommen war, hatte sich festgesetzt und ließ sich nicht mehr abschütteln. Bisweilen war sie nicht mehr sicher, ob sie nun der Idee nachjagte oder die Idee ihr. Oftmals war sie wie eine Gestalt am Rande eines Traumes: Sie kam näher, verschwand, kehrte wieder zurück. Den ganzen Tag über verfolgte Alma ihre Idee auf Seiten über Seiten eifrig hingekritzelter Notizen. Selbst in der Nacht blieb ihr Geist der Idee so unerbittlich auf den Fersen, dass Alma alle paar Stunden mit dem Drang erwachte, sich im Bett aufzusetzen und weiterzuschreiben.
    Nun zählte das Schreiben – man darf es nicht verschweigen – nicht eben zu Almas größten Stärken, obwohl sie bereits zwei, beinahe sogar drei Bücher verfasst hatte. Sie hatte sich nie angemaßt, über schriftstellerisches Talent zu verfügen. Ihre beiden Bücher über Moospflanzen waren keine Lektüre, die man zur Erbauung zur Hand nahm, und jenseits des überschaubaren Grüppchens von Moosexperten hätte sie wohl kaum jemand als lesenswert bezeichnet. Almas größte Stärke lag auf dem Gebiet der Taxonomie: Sie besaß ein schier unerschöpfliches Gedächtnis für die Artendifferenzierung und einen erschreckend exakten Blick für jedes noch so kleine Detail. Eine Geschichtenerzählerin war sie ganz sicher nicht. Seit sie sich an jenem Abend an die Oberfläche zurückgekämpft hatte, war sie überzeugt,

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