Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Menschen. Tomorrow Morning war ein Heide, der sich zum frommen Christen umgebildet hatte – denn er war schlau, besaß einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb und hatte erkannt, wohin die Welt sich entwickelte. Er hatte der Zukunft den Vorzug vor der Vergangenheit gegeben. Aufgrund dieses Weitblicks würden Tomorrow Mornings Kinder in dieser neuen Welt, in der ihr Vater ein angesehener, einflussreicher Mann war, prächtig gedeihen. (Zumindest würden sie so lange gedeihen, bis eine weitere Welle an Herausforderungen über sie hereinbrach. Dann war es an ihnen, ihren eigenen Weg zu finden. Es würde ihr eigener Kampf werden, den ihnen niemand ersparen konnte.)
Auf der anderen Seite stand Ambrose Pike, ein Mensch, den Gott gleich vierfach mit Brillanz, Originalität, Schönheit und Anmut gesegnet hatte – dem es aber schlicht und einfach an Beharrlichkeit fehlte. Ambrose hatte die Welt missdeutet. Er wünschte sich die Welt zum Paradies, während sie doch ein Schlachtfeld war. Er hatte sein Leben damit zugebracht, sich nach Ewigkeit, Dauerhaftigkeit und Reinheit zu sehnen. Ihn verlangte es nach einem himmlischen Bund der Engel, während er doch – so wie alles und jedes – an die unerbittlichen Gesetze der Natur gebunden war. Zudem, auch das wusste Alma nur allzu gut, waren es eben nicht immer die besonders Schönen, Brillanten, Originellen oder Anmutigen, die im Kampf ums Dasein die Oberhand behielten; mitunter waren es auch die besonders Grausamen, die vom Glück besonders Begünstigten oder auch einfach nur die besonders Hartnäckigen.
An jeder neuen Wegscheide galt es vor allem, den Anforderungen des Lebens möglichst lange standzuhalten. Die Überlebenschancen waren mörderisch gering, denn was war die Welt schon anderes als eine Schule des Elends und ein ewig brennender Herd der Bitternis? Doch jene, die in dieser Welt überlebten, formten sie auch – so wie die Welt zugleich sie formte.
Alma nannte ihre Idee »Eine Theorie der Veränderung durch Konkurrenz« und war sich sicher, sie beweisen zu können. Selbstverständlich konnte sie für ihre Beweisführung nicht Tomorrow Morning und Ambrose Pike als Beispiele nutzen, wenngleich beide in ihrer Vorstellung stets exemplarisch weiterlebten, überlebensgroß, romantisch und anschaulich. Doch sie auch nur zu erwähnen wäre aufs Gröbste unwissenschaftlich gewesen.
Aber mit den Moosen – damit konnte sie den Beweis führen.
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Alma schrieb rasch und reichlich. Sie hielt sich nicht lange mit Überarbeitungen auf, sondern riss die älteren Fassungen einfach entzwei, um wieder ganz von vorn zu beginnen, und das nahezu täglich. Es war ihr unmöglich, ihre Geschwindigkeit zu drosseln – das wollte sie auch gar nicht. Gleich einem Sturzbetrunkenen, der zwar noch rennen kann, ohne umzukippen, jedoch nicht mehr in der Lage ist, gemessenen Schrittes zu gehen, konnte sich auch Alma nur in fliegendem Tempo durch ihre Idee bewegen. Der Gedanke, langsamer zu werden und umsichtiger zu schreiben, war ihr ein Gräuel, weil sie fürchtete, dann aus dem Tritt zu kommen, den Mut zu verlieren oder – schlimmer noch! – gleich die ganze Idee.
Um ihre Geschichte zu erzählen – die Geschichte der Umbildung der Arten, wie sie sich anhand des graduellen Substanzwandels bei Moosen darlegen ließ –, benötigte Alma keine Notizen und auch keinen Zugang zur alten Bibliothek auf White Acre oder ihrem Herbarium. Nichts davon war vonnöten, denn sie hatte längst ein breit angelegtes Kompendium der Moostaxonomie im Kopf, es füllte jeden Winkel ihrer Hirnschale mit klar erinnerten Fakten und Einzelheiten. Zugleich konnte sie – oder genauer: ihr Geist – auch auf sämtliche Überlegungen zugreifen, die im vergangenen Jahrhundert zum Thema des Artenwandels und der geologischen Entwicklung zu Papier gebracht worden waren. Ihr Geist glich einem gewaltigen Lagerraum mit zahllosen Regalen, allesamt gefüllt mit Tausenden und Abertausenden von Büchern und Behältnissen, die unter Berücksichtigung einer Unzahl von Details alphabetisch geordnet waren.
Alma brauchte keine Bibliothek – sie war eine Bibliothek.
Während der ersten Monate ihrer Reise schrieb sie die grundlegenden Leitthesen ihrer Theorie immer und immer wieder um, bis sie schließlich der Ansicht war, sie auf zehn korrekte und nicht weiter reduzierbare Punkte gebracht zu haben:
Dass nämlich die Verteilung von Land und Wasser auf der Erde nicht immer so gewesen sein kann wie heute.
Dass, ausgehend von den
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