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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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bekannten Fossilienfunden, Moose sämtliche erdgeschichtlichen Epochen überstanden haben müssen.
    Dass die Moose besagte erdgeschichtliche Epochen durch einen Prozess der Anpassung überstanden haben.
    Dass die Moose ihr eigenes Schicksal beeinflussen können, indem sie entweder ihren Standort wechseln (ihn also in ein günstigeres Klima verlagern) oder aber ihre innere Struktur verändern (sich also umbilden).
    Dass die Umbildung von Moosarten sich im Laufe der Zeit als ein nahezu endloses Aneignen und Ablegen von Merkmalen geäußert hat, die schließlich zu folgenden Anpassungen geführt haben: einer verstärkten Austrocknungsresistenz, einem verringerten Bedürfnis nach direkter Sonneneinstrahlung sowie der Fähigkeit zur Reaktivierung auch nach Jahren der Dürre.
    Dass die Veränderungsrate sowie das Ausmaß von Veränderungen innerhalb einer Mooskolonie so gravierend sind, dass sie auf einen steten Veränderungsprozess schließen lassen.
    Dass hinter jenem steten Veränderungsprozess die Mechanismen der Konkurrenz und des Daseinskampfs stecken.
    Dass Moose mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit etwas anderes gewesen sein müssen (vermutlich Algen), ehe sie zu Moosen wurden.
    Dass Moose im Zuge der ständigen Weiterentwicklung der Welt irgendwann auch wieder etwas anderes werden können.
    Dass alles, was für Moose gilt, auch für alle anderen Lebewesen gelten muss.
    Almas Theorie erschien kühn und gefährlich, dieser Ansicht war sie selbst. Sie wusste, dass sie sich auf dünnem Eis bewegte – nicht nur aus religiöser Sicht (was ihr allerdings nicht allzu viel Kopfzerbrechen bereitete), sondern auch aus wissenschaftlicher. Während sie wie eine Bergsteigerin auf den Gipfel zuhielt, war sich Alma durchaus bewusst, dass sie Gefahr lief, in jene Falle zu tappen, in die im Lauf der Jahrhunderte schon so viele grandiose französische Denker geraten waren – indem sie nämlich ihrem eigenen System auf den Leim gingen, voller Begeisterung eine universelle Erklärung ersannen und daraufhin versuchten, sämtliche Fakten und Begründungen eben dieser Erklärung unterzuordnen, ob sie nun schlüssig waren oder nicht. Alma indessen war sich sicher, dass ihre Theorie schlüssig war. Es kam nur darauf an, dies herzuleiten.
    Ein Schiff war ein geradezu idealer Ort zum Schreiben – und mehrere Schiffe in Folge, die sich schwerfällig über die eintönigen Weltmeere bewegten, waren noch sehr viel besser. Niemand störte Alma. Roger der Hund lag in einem Winkel ihrer Kabine und sah ihr beim Arbeiten zu, hechelte und kratzte sich und blickte mitunter drein, als hätte das Leben ihn zutiefst enttäuscht, doch das hätte er wohl auch an jedem anderen Ort des Globus getan. Nachts sprang er manchmal zu Alma in die Koje und rollte sich in ihren Kniekehlen zusammen. Manchmal wachte Alma davon auf, dass er im Schlaf leise stöhnte.
    Auch Alma stöhnte nachts mitunter leise. Wie schon bei ihrer ersten Seereise, stellte sie auch diesmal fest, dass sie lebhaft und eindringlich träumte und dass Ambrose Pike in diesen Träumen eine tragende Rolle spielte. Doch nun tauchte auch immer häufiger Tomorrow Morning in ihren Träumen auf; manchmal verschmolz er sogar mit Ambrose zu sonderbar sinnlichen Schimären: Ambroses Kopf auf Tomorrow Mornings Körper, Tomorrow Mornings Stimme, die aus Ambroses Mund drang, der eine, der sich beim geschlechtlichen Verkehr mit Alma urplötzlich in den anderen verwandelte. Doch nicht nur Ambrose und Tomorrow Morning vermischten sich in diesen eigentümlichen Träumen – alles schien sich ineinanderzumischen. In Almas bestrickendsten nächtlichen Traumgeschichten verwandelte sich die alte Bindekammer von White Acre in eine Mooshöhle, Almas Remise wurde zu einem kleinen, aber behaglichen Zimmer in der Griffon-Irrenanstalt, aus den duftenden Wiesen Philadelphias wurden weite Felder voll warmen, schwarzen Sands; Prudence trug mit einem Mal Hannekes Kleidung, Schwester Manu beschnitt die Buchsbäume in Beatrix Whittakers griechischem Garten, und Henry Whittaker paddelte in einem kleinen polynesischen Kanu den Schuylkill entlang.
    So verstörend diese Bilder auch sein mochten, bedrückend fand Alma ihre Träume nicht. Sie erfüllten sie vielmehr mit einem bemerkenswerten Gefühl des Verbundenseins – als fügten sich die versprengten Einzelteile ihrer Lebensgeschichte nun schließlich doch noch zu einem Ganzen. Alles, was sie auf Erden je gekannt und geliebt hatte, verknüpfte sich und wurde eins .

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