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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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nun doch eine Geschichte erzählen zu müssen – und zwar eine Geschichte von epischer Breite. War es auch keine vergnügliche Geschichte, so bot sie allerdings manche Erklärung über die Natur. Alma glaubte sogar, dass sie alles erklärte.
    Und so lautete die Geschichte, die Alma erzählen wollte: Die Welt der Natur ist ein Schauplatz von mörderischer Brutalität, an dem große und kleinere Arten miteinander ums Überleben kämpfen. In diesem Kampf ums Dasein setzen sich die Starken durch, und die Schwachen verschwinden.
    An und für sich war dies kein origineller Gedanke. In der Wissenschaft fand der Ausdruck »Kampf ums Dasein« bereits seit Jahrzehnten Verwendung. Thomas Malthus beschrieb damit jene Kräfte, die im Laufe der Geschichte die Bevölkerungsexplosionen und nachfolgenden Zusammenbrüche steuerten. Auch Owen und Lyell verwendeten ihn in ihren Werken über die Geologie und das Aussterben. Der Kampf ums Dasein war gewissermaßen in aller Munde. Doch Almas Geschichte nahm eine besondere Wendung. Sie vermutete und war inzwischen ganz davon überzeugt, dass der Kampf ums Dasein, wenn er über lange Zeiträume hinweg ausgefochten wurde, das Leben auf Erden nicht nur bestimmte – er hatte das Leben auf Erden auch erschaffen . Vor allem hatte er dessen ungeheure Vielfalt erschaffen. Dieser Kampf war der Mechanismus. Dieser Kampf war die Erklärung für sämtliche unliebsamen Rätsel der Biologie: die Artendifferenzierung, das Artensterben und die Veränderlichkeit der Arten. Dieser Kampf erklärte alles.
    Die Ressourcen auf dem Planeten waren beschränkt. Und so wurde um diese Ressourcen dauerhaft und hitzig gekämpft. Diejenigen Individuen, die den Herausforderungen des Lebens insgesamt standzuhalten vermochten, waren dazu in der Lage, weil irgendeine Eigenschaft oder Mutation sie widerstandsfähiger, gerissener, erfinderischer oder robuster machte als andere. War diese vorteilhafte Spezialisierung einmal erreicht, gaben die überlebenden Individuen ihre segensreiche Eigenschaft an ihre Nachkommen weiter, die sich dann ebenfalls einer höchst erquicklichen Dominanz erfreuen durften – so lange, bis ein anderer, überlegenerer Gegner auftauchte oder eine unentbehrliche Ressource verschwand. Im Laufe dieses endlosen Kampfes ums Überleben veränderte sich unweigerlich die ganze Struktur der jeweiligen Art.
    Almas Überlegungen bewegten sich grob in die Richtung dessen, was der Astronom William Herschel »kontinuierliche Schöpfung« genannt hatte: die Annahme, dass etwas zugleich dauerhaft sein und sich doch entfalten konnte. Herschel allerdings war der Meinung gewesen, die Schöpfung könne nur auf kosmologischer Ebene kontinuierlich sein, während Alma inzwischen fest daran glaubte, dass sie auf jeder Ebene des Lebens, selbst bei den Mikroorganismen und den Menschen, kontinuierlich war. Die Herausforderungen des Daseins waren allgegenwärtig, und mit jedem Augenblick änderten sich die Gegebenheiten der natürlichen Welt. Vorteile wurden erworben und wieder verloren. Es gab Phasen des Überflusses, denen Phasen von hia’ia folgten – Zeiten der Entbehrungen. Es gab nichts, was unter ungünstigen Bedingungen nicht aussterben konnte. Doch es gab auch nichts, was unter günstigen Bedingungen nicht vermocht hätte, sich umzubilden. Aussterben und Umbildung vollzogen sich seit Anbeginn allen Lebens, sie vollzogen sich immer noch und würden sich bis ans Ende aller Zeiten weiter vollziehen – und wenn das keine »kontinuierliche Schöpfung« darstellte, dann wusste Alma auch nicht weiter.
    Der Kampf ums Dasein, davon war sie überzeugt, prägte auch die Biologie des Menschen und sein Schicksal. Tomorrow Morning war das beste Beispiel dafür: Seine Familie war samt und sonders von den unbekannten Krankheiten ausgerottet worden, die die Europäer nach Tahiti eingeschleppt hatten. Fast wäre seine Stammeslinie also ausgestorben, doch aus irgendeinem Grund war Tomorrow Morning dem Tod entronnen. Etwas in seiner Konstitution hatte es ihm ermöglicht, zu überleben, obwohl der Tod seine Ernte mit vollen Händen einfuhr und alle um ihn her mit sich nahm. Doch Tomorrow Morning hatte sich durchgesetzt und lebensfähige Nachkommen gezeugt, die womöglich auch seine Stärke und seine außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten geerbt hatten. Solche Vorfälle trugen dazu bei, eine Art herauszubilden.
    Und mehr noch, überlegte Alma weiter, der Kampf ums Dasein prägte auch die innere Verfassung eines

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