Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Alma fühlte sich durch diese Erkenntnis erleichtert und beflügelt zugleich. Und so genoss sie jene Empfindung, die sie bis dahin nur einmal erlebt hatte, in den Wochen vor ihrer Hochzeit mit Ambrose: das Gefühl, ungeheuer lebendig zu sein. Und nicht nur lebendig, sondern zudem ausgestattet mit einem Geist, der sich bis an die äußersten Grenzen seiner Fähigkeiten dehnte – einem Geist, der alles überschaute und alles begriff, als blickte er vom höchstmöglichen Aussichtspunkt darauf herab.
Sie erwachte, atmete tief durch und machte sich sogleich erneut ans Schreiben.
Nachdem sie die zehn Leitlinien ihrer gewagten Theorie aufgestellt hatte, spannte Alma ihre bebenden, aufgeladenen Energien nun dafür ein, die Geschichte des Mooskriegs von White Acre zu erzählen. Sie schrieb die Geschehnisse jener sechsundzwanzig Jahre nieder, in denen sie die Vorstöße und Rückzüge konkurrierender Mooskolonien auf einer einzigen Ansammlung von Felsbrocken am Waldrand beobachtet hatte. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf die Gattung Dicranum , da diese innerhalb der Familie der Moosgewächse das vielfältigste Spektrum von Varianten aufwies. Alma kannte Dicranum -Arten, die kurz und unauffällig waren, während andere dichte, exotische Fransen ausbildeten. Es gab Arten, deren Blätter glatt, und Arten, deren Blätter gekräuselt waren; manche siedelten sich ausschließlich auf verrottenden Baumstämmen neben den Steinen an, andere bevorzugten die sonnigsten Spitzen hoch aufgerichteter Felsbrocken, wieder andere gediehen prächtig in Wasserpfützen, und eine Art vermehrte sich am kräftigsten in unmittelbarer Nähe der Exkremente des Weißwedelhirschs.
Im Zuge ihrer jahrzehntelangen Studien hatte Alma beobachtet, dass die einander ähnlichsten Dicranum -Arten meist unmittelbar nebeneinander auftraten. Sie folgerte, dass dies kein Zufall sein konnte – dass die Härten des Wettstreits um Sonnenlicht, Boden und Wasser die Pflanzen im Laufe der Jahrtausende gezwungen hatten, winzigste Anpassungen vorzunehmen, die ihnen einen ebenso winzigen Vorteil gegenüber ihren Nachbarn verschafften. So kam es auch, dass oft drei oder vier verschiedene Dicranum -Arten denselben Felsen besiedelten: Jede von ihnen hatte in dieser begrenzten, kompakten Umgebung ihre eigene Nische gefunden und verteidigte ihr ureigenes Territorium nun mittels kleinerer Anpassungen. Diese Anpassungen brauchten gar nicht spektakulär zu sein: Die Moose mussten weder Blüten ausbilden noch Früchte tragen oder sich Flügel wachsen lassen. Sie mussten lediglich unterschiedlich genug sein, um den Gegner zu übertrumpfen – und welcher Gegner war bedrohlicher als der, der direkt neben einem wuchs? Die größten Schlachten finden immer vor der eigenen Haustür statt.
Bis ins kleinste Detail beschrieb Alma Schlachten, deren Siege oder Verluste sich nur mit wenigen Zoll und über Jahrzehnte hinweg beziffern ließen. Sie berichtete, wie Klimaveränderungen im Verlauf dieser Jahrzehnte der einen Variante einen Vorteil vor der anderen verschafft hatten, wie Vögel das Schicksal der Moose beeinflussten und wie sich, als die alte Eiche neben dem Weidengatter gefällt wurde und sich die Lichtverhältnisse über Nacht veränderten, auch das ganze Moosuniversum auf der Felsoberfläche änderte.
»Je größer die Krise«, so schrieb sie, »umso rascher, so scheint es, die Entwicklung.«
»Jede Veränderung«, so schrieb sie, »scheint aus Not und Verzweiflung geboren.«
»Die Schönheit und Vielfalt der Natur«, so schrieb sie, »ist nur das sichtbare Vermächtnis eines endlosen Krieges.«
»Der Sieger wird immer gewinnen«, so schrieb sie, »doch nur, solange er gewinnt.«
»Das Leben«, so schrieb sie, »ist eine zagende und schwierige Versuchsanordnung. Manchmal folgt dem Leiden ein Sieg – doch das ist niemals gewiss. Das wertvollste, schönste Individuum ist nicht immer auch das widerstandsfähigste. Der Kampf in der Natur wird nicht vom Bösen bestimmt, sondern von diesem einen, ebenso mächtigen wie gleichgültigen Naturgesetz: dass es nämlich schlicht zu viele Lebensformen gibt und nicht genügend Ressourcen, um allen das Überleben zu sichern.«
»Der ständige Kampf zwischen und innerhalb der Arten«, so schrieb sie, »ist ebenso unausweichlich wie der Verlust, wie der biologische Wandel. Die Evolution ist nichts als eine erbarmungslose Rechenaufgabe, und der lange Weg durch die Zeit ist gepflastert mit den versteinerten Überresten
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