Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
erstand sie. Sie setzte sich in einen Park und schrieb lange Briefe an Prudence und Hanneke, um ihnen mitzuteilen, dass sie in Holland eingetroffen sei und vorhabe, sich dauerhaft dort niederzulassen.
Ihr Geld war beinahe aufgebraucht. Ein paar Goldmünzen steckten noch in den zerschlissenen Kleidersäumen, doch allzu viele waren es nicht. Sie hatte ohnehin nicht viel vom Erbe ihres Vaters für sich behalten, und nun – nach den Jahren des Reisens – war der größte Teil ihres bescheidenen Vermögens Münze für Münze ausgegeben. Zurück blieb eine Summe, die kaum noch für die einfachsten lebenswichtigen Dinge ausreichte. Natürlich wusste Alma, dass sie jederzeit an weiteres Geld gelangen konnte, falls ein echter Notfall eintrat. Wahrscheinlich hätte sie jedes beliebige Kontor am Hafen von Rotterdam aufsuchen und dort – unter Verwendung des Namens von Dick Yancey und des Vermächtnisses ihres Vaters – ohne Schwierigkeiten eine Anleihe auf das Whittaker-Vermögen vornehmen können. Doch ebendies wollte sie nicht. Sie glaubte, kein Anrecht auf dieses Vermögen zu haben. Es schien ihr von größter persönlicher Bedeutung, sich fortan allein im Leben zu behaupten.
Nachdem die Briefe aufgegeben und für eine neue Garderobe gesorgt war, verließen Alma und Roger Rotterdam an Bord eines Dampfers (der bei weitem erträglichste Teil ihrer Reise) und nahmen Kurs auf den Hafen von Amsterdam. Nach der Ankunft ließ Alma ihr Gepäck in einem bescheidenen Hotel unweit des Hafens und heuerte einen Kutscher an, der sich gegen einen Aufpreis von zwanzig Stüvern schließlich auch überreden ließ, Roger als Passagier zu befördern. Die Droschke brachte sie in das stille Stadtviertel Plantage, direkt vor die Tore des Hortus Botanicus.
Im Schein der tiefstehenden Abendsonne stieg Alma aus und stand vor den hohen Backsteinmauern des Botanischen Gartens. Roger war an ihrer Seite, und unter dem Arm hielt sie ein in braunes Packpapier gewickeltes Päckchen. Am Tor stand ein junger Mann in der adretten Uniform eines Aufsehers, und Alma näherte sich ihm und fragte in fließendem Holländisch, ob der Direktor heute im Hause sei. Der junge Mann erwiderte, der Direktor sei allerdings im Hause, da er nämlich an ausnahmslos jedem Tag des Jahres zur Arbeit erscheine.
Alma musste lächeln. Natürlich, dachte sie.
»Wäre es möglich, mit ihm zu sprechen?«, fragte sie.
»Darf ich fragen, wer Sie sind und welches Anliegen Sie verfolgen?«, fragte der junge Mann zurück und musterte Alma und Roger mit einem wenig schmeichelhaften Blick. Gegen seine Fragen hatte Alma nichts einzuwenden, wohl aber gegen seinen Ton.
»Mein Name ist Alma Whittaker, und ich verfolge das Studium der Moose und der Umbildung der Arten«, sagte sie.
»Und warum sollte der Direktor Sie empfangen wollen?«, fragte der Aufseher.
Alma richtete sich zu voller, imposanter Größe auf und begann, einem rauti gleich, mit kraftvoller Stimme ihre Stammeslinie zu rezitieren. »Mein Vater war Henry Whittaker, den man hierzulande einst den ›Prinzen von Peru‹ nannte. Mein Großvater väterlicherseits war der Apfelmagier Seiner Majestät König George III. von England. Mein Großvater mütterlicherseits war Jacob van Devender, ein Meister der Züchtung von Aloen als Zierpflanzen und über mehr als dreißig Jahre hinweg der Direktor dieser Gärten – eine Stellung, die er bereits von seinem Vater übernommen hatte und der wiederum von seinem Vater und immer so weiter bis zurück zur Gründung dieser Einrichtung im Jahre 1638. Ihr jetziger Direktor ist, wenn mich nicht alles täuscht, ein gewisser Doktor Dees van Devender. Er ist mein Onkel. Seine ältere Schwester hieß Beatrix van Devender. Sie war meine Mutter und eine Virtuosin der griechischen Gartenkunst. Meine Mutter kam meiner Kenntnis nach nur eine Straßenecke von hier entfernt zur Welt, in einem Privathaus, das gleich an die Mauern des Hortus grenzt – und wo seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts alle van Devenders zur Welt gekommen sind.«
Der Aufseher sah sie mit offenem Mund an.
»Und falls Sie sich all diese Informationen nicht merken können, junger Mann«, schloss Alma, »dürfen Sie meinem Onkel Dees auch einfach nur bestellen, dass seine Nichte aus Amerika ihn liebend gerne kennenlernen würde.«
Kapitel 28
Dees van Devender saß hinter einem unordentlichen Schreibtisch in seinen Büroräumen und musterte Alma.
Sie ließ sich von ihm mustern. Ihr Onkel hatte kein Wort an sie
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