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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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gerichtet, seit man sie wenige Minuten zuvor in seine Räumlichkeiten geführt hatte, und er hatte ihr auch keinen Stuhl angeboten. Er war keineswegs unhöflich; er war einfach Holländer und folglich vorsichtig. Er machte sich ein Bild von ihr. Roger hockte neben Alma wie eine kleine bucklige Hyäne. Onkel Dees musterte auch den Hund. Im Allgemeinen ließ Roger sich nur ungern betrachten. Wenn Fremde ihn auf diese Weise musterten, drehte er ihnen üblicherweise den Rücken zu, ließ den Kopf hängen und seufzte bekümmert. Doch nun tat Roger etwas höchst Erstaunliches. Er entfernte sich von Alma, trippelte unter den Schreibtisch, legte sich dort nieder und ließ das Kinn auf Doktor van Devenders Füße sinken. Etwas Derartiges hatte Alma noch nie erlebt. Sie wollte gerade eine Bemerkung dazu machen, doch ihr Onkel, der sich nicht im Geringsten an dem Hund zu seinen Füßen zu stören schien, kam ihr zuvor.
    »Je lijkt niet op je moeder« , sagte er.
    Sie sehen Ihrer Mutter gar nicht ähnlich.
    »Ich weiß«, erwiderte Alma auf Holländisch.
    Er fuhr fort: »Aber Sie sehen aufs Haar aus wie Ihr Vater.«
    Alma nickte. Es war nicht zu überhören, dass die Ähnlichkeit mit Henry Whittaker ihr aus seiner Sicht nicht eben zum Vorteil gereichte. Doch das war ja nie anders gewesen.
    Er musterte sie weiter. Sie musterte ihn ebenfalls. Sie war ebenso gefesselt von seinem Gesicht wie er von ihrem. Alma mochte Beatrix Whittaker zwar nicht ähneln, doch dieser Mann tat es dafür umso mehr. Die Ähnlichkeit war nur allzu augenfällig: ein genaues Abbild des Gesichts ihrer Mutter, nur älter, männlicher, bärtiger und augenblicklich reichlich misstrauisch (was jedoch, wenn man es recht bedachte, die Ähnlichkeit mit Beatrix nur noch verstärkte).
    »Was ist denn aus meiner Schwester geworden?«, wollte er wissen. »Wir haben natürlich vom Aufstieg Ihres Vaters gehört, so wie alle Botaniker in ganz Europa, doch von Beatrix haben wir nie wieder Nachricht erhalten.«
    Und sie auch nicht von euch, dachte Alma bei sich, sprach es aber nicht aus. Im Grunde warf sie den Amsterdamer Verwandten nicht vor, dass sie seit – wann war das noch gleich gewesen? – seit 1792 keine Verbindung mehr mit Beatrix aufgenommen hatten. Sie wusste, wie eigensinnig die van Devenders waren. Es hätte zu nichts geführt. Ihre Mutter hätte niemals nachgegeben.
    »Meine Mutter hat ein erfülltes Leben geführt«, antwortete Alma. »Sie war zufrieden. Sie hat einen bemerkenswerten klassischen Garten angelegt, der überall in Philadelphia Bewunderung fand. Und sie hat gemeinsam mit meinem Vater dessen botanische Geschäfte betrieben, bis zu ihrem Tod.«
    »Der wann erfolgte?«, fragte ihr Onkel in einem Ton, der bestens zu einem Polizeibeamten gepasst hätte.
    »Im August 1820«, antwortete Alma.
    Als er das Datum hörte, verzog ihr Onkel einen Moment lang das Gesicht. »Schon vor so langer Zeit«, sagte er. »Viel zu jung.«
    »Sie starb sehr plötzlich«, log Alma. »Sie hat nicht gelitten.«
    Er betrachtete sie noch ein Weilchen, dann nahm er beiläufig einen Schluck Kaffee und einen Bissen von den wentelteefje , die auf einem kleinen Teller vor ihm standen. Offensichtlich hatte Alma ihn bei einem abendlichen Imbiss gestört. Sie hätte einiges darum gegeben, ein Stück dieser wentelteefje probieren zu dürfen. Sie sahen höchst appetitlich aus und dufteten auch so. Wann hatte sie das letzte Mal Arme Ritter mit Zimt gegessen? Vermutlich, als Hanneke sie ihr das letzte Mal zubereitet hatte. Der Duft machte sie ganz schwach vor Nostalgie. Doch Onkel Dees bot ihr keinen Kaffee an, und er lud sie erst recht nicht ein, die appetitlichen, goldbraunen, buttrigen wentelteefje mit ihm zu teilen.
    »Soll ich Ihnen noch mehr von Ihrer Schwester erzählen?«, fragte Alma schließlich. »Ich vermute, Ihre Erinnerungen an sie sind die Erinnerungen eines Kindes. Wenn Sie es wünschen, erzähle ich Ihnen ein paar Geschichten.«
    Er sagte nichts. Alma versuchte, ihn sich so vorzustellen, wie Hanneke ihn stets geschildert hatte: als liebevollen zehnjährigen Jungen, der darüber weinte, dass seine große Schwester nach Amerika durchbrannte. Zahllose Male hatte Hanneke Alma erzählt, wie Dees sich an Beatrix’ Röcken festgeklammert hatte, bis man ihn schließlich gewaltsam entfernen musste. Sie hatte ihr auch erzählt, wie Beatrix ihren kleinen Bruder getadelt und ihn ermahnt hatte, der Welt nie wieder seine Tränen zu zeigen. Alma fand das alles schwer vorstellbar.

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