Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
Kanälen, Schleusen, Baggern und Deichen geschützt und erhalten – erschien Alma nicht so sehr wie eine Stadt als vielmehr wie eine Maschine, ein Triumph menschlicher Schaffenskraft. Es war der künstlichste Ort, den man sich denken konnte. Es war die Summe menschlicher Intelligenz. Es war vollkommen. Sie wollte nie wieder fort von hier.
    Als sie schließlich in ihr Hotel zurückkehrte, war es bereits weit nach Mitternacht. Ihre Füße in den neuen Schuhen waren wundgelaufen. Die Wirtin reagierte nicht eben freundlich auf Almas spätnächtliches Klopfen.
    »Wo ist Ihr Hund?«, wollte sie wissen.
    »Den habe ich bei einem Bekannten gelassen.«
    »Hmpf«, machte die Frau. Sie hätte kaum missbilligender dreinschauen können, wenn Alma geantwortet hätte: »Den habe ich an eine Zigeunerin verschachert.«
    Doch sie gab Alma ihren Zimmerschlüssel. »Denken Sie dran, kein Männerbesuch heute Nacht.«
    Weder heute Nacht noch in irgendeiner anderen Nacht, meine Beste, dachte Alma. Aber schön, dass Sie wenigstens auf den Gedanken kommen.
    •
    Am nächsten Morgen erwachte Alma davon, dass jemand an ihre Tür hämmerte. Es war ihre alte Freundin, die misslaunige Hotelwirtin.
    »Da wartet eine Kutsche auf Sie, Madame!«, brüllte die Frau mit einer Stimme so klar wie Teer.
    Alma stolperte zur Tür. »Ich erwarte aber keine Kutsche«, sagte sie.
    »Na, die wartet trotzdem auf Sie«, rief die Frau. »Ziehn Sie sich was an. Der Mann meint, er fährt nicht ohne Sie. Er sagt, Sie solln packen. Ihr Zimmer hat er auch schon bezahlt. Ich weiß ja nicht, wie solche Leute auf die Idee kommen, ich wär der Botendienst.«
    Benommen kleidete Alma sich an und packte ihre beiden kleinen Reisetaschen. Sogar ihr Bett machte sie – vielleicht aus Gewissenhaftigkeit, vielleicht aber auch, um Zeit zu gewinnen. Eine Kutsche? Wollte man sie verhaften? Sie des Landes verweisen? War das irgendein fauler Trick, auf den Touristen regelmäßig hereinfielen? Aber sie war doch gar keine Touristin.
    Als sie nach unten kam, fand sie dort einen livrierten Fahrer vor, der neben einer bescheidenen Privatkutsche auf sie wartete.
    »Guten Morgen, Miss Whittaker«, sagte er und tippte sich an die Mütze. Er verstaute ihre Taschen bei sich auf dem Kutschbock. Alma konnte sich des unguten Gefühls nicht erwehren, man werde sie gleich in den nächsten Zug setzen.
    »Verzeihen Sie«, sagte sie. »Aber ich habe keine Kutsche bestellt.«
    »Doktor van Devender schickt mich«, sagte der Mann und hielt ihr die Kutschentür auf. »Kommen Sie, steigen Sie ein – er wartet schon und ist ganz begierig, Sie zu sehen.«
    Es dauerte fast eine Stunde, bis sie sich durch die Stadt geschlängelt hatten. Zu Fuß wäre es wohl rascher gegangen, dachte Alma. Und weniger aufreibend. Sie wäre längst nicht so aufgewühlt gewesen, hätte sie laufen dürfen. Doch schließlich hielt der Fahrer vor einem stattlichen Backsteinhaus hinter dem Hortus Botanicus, an der Plantage Parklaan.
    »Nur zu«, rief er über die Schulter, während er noch mit ihren Taschen hantierte. »Gehen Sie ruhig hinein – die Tür ist offen. Ich sagte ja, er wartet auf Sie.«
    Es brachte Alma ein wenig aus der Fassung, einfach so, unangekündigt, ein Privathaus zu betreten, doch sie tat wie geheißen. Und völlig fremd war ihr das Haus ja auch nicht: Ihrer Kenntnis nach war hier ihre Mutter zur Welt gekommen.
    Gleich neben der Empfangsdiele erblickte Alma eine offene Tür und spähte hindurch. Es war ein Salon. Sie sah ihren Onkel auf einem Diwan sitzen und auf sie warten.
    Als Erstes bemerkte sie Roger den Hund, der – unglaublich! – zusammengerollt auf Onkel Dees’ Schoß lag.
    Als Zweites bemerkte sie, dass Onkel Dees in der rechten Hand ihr Manuskript hielt und es leicht auf Rogers Rücken abstützte, als wäre der Hund ein tragbares Schreibpult.
    Und als Drittes bemerkte sie, dass das Gesicht ihres Onkels nass von Tränen war. Sein Hemdkragen war ganz durchweicht. Auch sein Bart schien vollkommen durchnässt. Sein Kinn zitterte, und er hatte besorgniserregend rote Augen. Es hatte ganz den Anschein, als weinte er bereits seit Stunden.
    »Onkel Dees!« Alma eilte zu ihm. »Was ist denn geschehen?«
    Der alte Mann schluckte und ergriff ihre Hand. Die seine fühlte sich heiß und feucht an. Eine Zeitlang brachte er kein Wort heraus, hielt nur fest ihre Hand umklammert. Er wollte sie gar nicht mehr loslassen.
    Schließlich hielt er mit der anderen Hand das Manuskript in die Höhe.
    »Oh, Alma«, sagte er

Weitere Kostenlose Bücher