Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
unter den van Devenders sein.
Sofern diese sie wollten.
Und was, wenn sie Alma nicht wollten? Nun, darin bestand das Wagnis. Die van Devenders – wie viele auch immer noch übrig sein mochten – sehnten Almas Gesellschaft womöglich nicht ganz so innig herbei wie sie die ihre. Sie würden sich vielleicht nichts aus dem machen, was sie zum Hortus Botanicus beizutragen hatte. Womöglich betrachteten sie sie nur als Störenfried, als Dilettantin. Alma hatte einiges aufs Spiel gesetzt, als sie ihrem Onkel Dees ihren Traktat aushändigte. Es war nicht abzusehen, welche Reaktion ihre Arbeit bei ihm hervorrufen würde: Von Langeweile ( die Moosgewächse Philadelphias?! ) über religiöse Kränkung ( kontinuierliche Schöpfung?! ) bis hin zu wissenschaftlichen Bedenken ( eine die gesamte natürliche Welt umfassende Theorie?! ) war alles möglich. Alma wusste, dass sie mit ihrer Schrift Gefahr lief, als leichtsinnig, arrogant, naiv, anarchisch, degeneriert und womöglich sogar ein klein wenig französisch zu gelten. Und doch war diese Arbeit auch und vor allem ein Abbild ihrer Fähigkeiten, und Alma wollte, dass ihre Familie diese Fähigkeiten kennenlernte, falls sie das denn wünschte.
Sollten die van Devenders und der Hortus Botanicus sie indessen abweisen, so beschloss Alma, sich zu ermannen und dennoch durchzuhalten. Vielleicht würde sie sich trotzdem in Amsterdam ansiedeln, vielleicht würde sie auch nach Rotterdam zurückkehren, oder sie würde nach Leiden ziehen und dort in der Nähe der Universität leben. Und wenn nicht Holland, so gab es immer noch Frankreich, immer noch Deutschland. Sie würde anderswo eine Stellung finden, vielleicht sogar in einem anderen botanischen Garten. Natürlich war es für eine Frau schwierig, doch unmöglich war es nicht – der Name ihres Vaters und Dick Yanceys Einfluss verschafften ihr immerhin Glaubwürdigkeit. Sie kannte jeden einflussreichen Professor für Bryologie in Europa, hatte mit etlichen von ihnen jahrelang korrespondiert. Sie würde sie aufsuchen und darum bitten, für einen von ihnen als Assistentin arbeiten zu dürfen. Und wenn das nicht gelang, konnte sie immer noch unterrichten – natürlich nicht an einer Universität, doch irgendwo ließ sich immer eine Anstellung als Gouvernante bei einer wohlhabenden Familie finden. Statt Botanik konnte sie auch Sprachen unterrichten. Davon hatte sie weiß Gott mehr als genug im Kopf.
Stundenlang streifte Alma durch die Stadt. Sie war noch nicht bereit, in ihr Hotel zurückzukehren. Auch an Schlaf war nicht zu denken. Roger fehlte ihr, doch sie fühlte sich zugleich befreit, weil er nicht mehr hinter ihr hertrottete. Sie hatte den Aufbau von Amsterdam noch nicht verinnerlicht, und so durchwanderte sie diese seltsam geformte Stadt, verlief sich und fand sich wieder zurecht – durchmaß auf verschlungenen Wegen diesen großen, halb gespannten Bogen mit seinen fünf gewaltigen, kurvigen Kanälen. Immer wieder überquerte sie Wasserläufe, auf Dutzenden von Brücken, deren Namen sie nicht kannte. Sie spazierte an der Herengracht entlang und bewunderte die schönen Häuser mit ihren gezackten Schornsteinen und ihren vorstehenden Giebeln. Sie passierte den Palast. Sie fand das Hauptpostamt. Und sie fand auch ein Café, wo sie sich endlich einen eigenen Teller wentelteefje bestellen konnte, um sie genüsslich zu verzehren und dabei in einer älteren Ausgabe von Lloyd’s Weekly Newspaper zu blättern, die sicher ein freundlicher englischer Tourist liegengelassen hatte.
Es wurde dunkel, und Alma ging immer weiter. Sie kam an alten Kirchen und neuen Theaterbauten vorbei. Sie sah Schenken und Ginpaläste, Spielhöllen und Schlimmeres. Sie sah alte Puritaner mit kurzem Mantel und Halskrause, die geradewegs der Zeit Charles I. entsprungen schienen. Sie sah junge Frauen mit entblößten Armen, die Männer in dunkle Hauseingänge lockten. Sie sah – und roch – die Heringsverpackungsanlagen. Sie sah die Hausboote, die die Kanäle säumten, mit ihren Gärten voll blühender Topfpflanzen und umherstreunender Katzen. Sie ging durch das jüdische Viertel und sah die Werkstätten der Diamantschneider. Sie sah Findlingshospitäler und Waisenhäuser; sie sah Druckereien und Banken und Kontore; sie sah den riesigen zentralen Blumenmarkt, dessen Stände über Nacht verrammelt waren. Ringsum spürte sie – selbst noch zu dieser späten Stunde – das Summen allgemeiner Betriebsamkeit.
Amsterdam – auf Schlick und Stelzen erbaut, von Pumpen,
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