Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
aggressiveren, schnell wachsenden Moosarten zu zügeln, damit sich die selteneren, zarteren Arten entfalten konnten. Alma hatte von Mönchen in Japan gelesen, die ihre Moosgärten bestellten, indem sie mit Pinzetten darin jäteten – eine Methode, die sie sich zum Vorbild nahm. Jeden Morgen konnte man sie in der Mooshöhle beobachten, wie sie beim Licht einer Grubenlampe mit ihrer feinen Stahlpinzette unbotmäßige Triebe einzeln ausrupfte. Sie wollte, dass alles perfekt war. Sie wollte, dass es funkelte wie ein Smaragdfeld – so wie jene erstaunliche Mooshöhle für sie und Tomorrow Morning gefunkelt hatte, damals, vor Jahren, auf Tahiti.
Almas Mooshöhle erfreute sich im Hortus großer Beliebtheit, wenngleich nur bei einem bestimmten Menschenschlag, der sich nach kühlem Dunkel sehnte, nach Stille und Träumerei – kurzum: bei jenen Menschen, die wenig mit prächtigen Blüten, gewaltigen Lilienfeldern und lärmenden Großfamilien anzufangen wussten. Alma genoss es, in einer Ecke der Höhle zu sitzen und die Menschen zu beobachten, die diese von ihr erschaffene Welt betraten. Sie sah, wie sie die Moosschichten liebkosten, sah, wie ihre Züge weicher, ihre Haltung weniger steif wurde. Sie fühlte sich ihnen wahlverwandt, diesen Stillen.
Während jener Jahre verbrachte Alma auch einige Zeit damit, weiter an ihrer Theorie der Veränderung durch Konkurrenz zu arbeiten. Onkel Dees redete ihr zu, die Schrift zu veröffentlichen, seit er sie bei Almas Ankunft 1854 gelesen hatte, doch Alma hatte sich damals schon dagegen gesperrt, und sie sperrte sich weiterhin. Mehr noch, sie wollte ihm nicht einmal erlauben, mit Außenstehenden darüber zu sprechen. Ihr Widerstand war dem armen Onkel eine Pein, hielt er Almas Theorie doch nicht nur für wichtig, sondern wohl auch für zutreffend. Er warf ihr übertriebene Scheu und Zurückhaltung vor. Vor allem aber warf er ihr vor, sie fürchte die religiöse Ächtung, wenn ihre Gedanken von der kontinuierlichen Schöpfung und der Umbildung der Arten öffentlich würden.
»Du hast einfach nicht den Mut, als Gottes-Mörderin dazustehen«, erklärte ihr dieser vorbildliche holländische Protestant, der jeden Sonntag seines Lebens fromm zur Messe ging. »Komm schon, Alma – wovor fürchtest du dich? Zeig doch ein wenig vom Wagemut deines Vaters, Kind! Zieh los und lehre die Welt das Fürchten! Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann weck sie ruhig auf, die ganze kläffende Hundemeute der Widerspruchsgeister. Der Hortus hält seine schützende Hand über dich! Wir könnten es selbst herausbringen! Wir könnten es auch unter meinem Namen veröffentlichen, wenn du die Kritik so fürchtest.«
Doch Alma zögerte nicht aus Furcht vor der Kirche, sondern aus der tiefen Überzeugung, dass ihre Theorie wissenschaftlich weiterhin zu widerlegen wäre. In ihrer Logik klaffte noch eine kleine Lücke, da war sie sich sicher, und sie hatte bisher keine Möglichkeit gefunden, sie zu schließen. Alma war perfektionistisch und mehr als nur ein wenig pedantisch, und sie wollte sich keinesfalls dabei ertappen lassen, dass sie eine lückenhafte Theorie veröffentlichte, und sei die Lücke auch noch so klein. Sie fürchtete nicht, religiöse Gefühle zu verletzen, wie sie ihrem Onkel oft genug versicherte; sie fürchtete, etwas zu verletzen, was ihr selbst um vieles heiliger war: die Vernunft .
Und dies war die Lücke in Almas Theorie: Sie konnte beim allerbesten Willen nicht begreifen, worin der evolutionäre Vorteil von Nächstenliebe und Selbstlosigkeit bestand. Wenn die Welt der Natur tatsächlich, wie es den Anschein hatte, der Schauplatz eines permanenten, amoralischen Kampfes ums Überleben war, wenn der Schlüssel zu Vorherrschaft, Anpassung und Überdauern tatsächlich darin lag, den Gegner zu übertrumpfen – wie erklärte man sich dann einen Menschen wie Almas Schwester Prudence?
Sooft Alma den Namen ihrer Schwester in diesem Zusammenhang fallenließ, stöhnte ihr Onkel auf. »Nicht schon wieder!«, sagte er dann und raufte sich den Bart. »Kein Mensch hat jemals von Prudence gehört, Alma! Das interessiert niemanden!«
Alma indessen interessierte es, und das »Problem Prudence«, wie sie es für sich nannte, machte ihr enorm zu schaffen, denn es drohte, ihre ganze Theorie zu Fall zu bringen. Es machte ihr vor allem deshalb zu schaffen, weil es sie persönlich anging. Schließlich hätte Alma vor nahezu vierzig Jahren die Nutznießerin eines ungeheuer großzügigen und selbstlosen
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