Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
bevorstand.
Gemeinsam entrissen sie Polly dem Mob und sorgten dafür, dass es dabei auch blieb. Es war keine wohlüberlegte Entscheidung. Es war auch keine mildtätige Geste, kein warmer Mantel mütterlicher Güte. Nein, es war reine Intuition, entsprungen einer stillen, aber profunden weiblichen Kenntnis dessen, wie die Dinge nun einmal sind. Eine kleine Person von solcher Schönheit lässt man nicht mitten in der Nacht mit zehn erhitzten Mannsbildern allein.
Als die Männer das Feld geräumt und Beatrix und Hanneke somit für Pollys Sicherheit gesorgt hatten, stellte sich die Frage, was nun mit ihr geschehen sollte. Und in diesem Moment trafen Beatrix und Hanneke eine sehr wohl durchdachte Entscheidung. Im Grunde traf sie Beatrix, denn die Entscheidungshoheit lag allein bei ihr. Es war ein durchaus gewagter Entschluss: Sie entschied, Polly für immer bei sich zu behalten, sie also umgehend zu adoptieren. Sie sollte eine Whittaker werden.
Später erfuhr Alma, dass Henry zunächst protestiert hatte: Er war nicht gerade glücklich darüber, dass man ihn mitten in der Nacht geweckt hatte, und schon gar nicht, dass er nun auch noch wie aus dem Nichts eine zweite Tochter bekommen sollte. Doch Beatrix unterband seinen Einwand mit einem scharfen Blick, und Henry war klug genug, kein zweites Mal zu widersprechen. Dann sollte es wohl so sein. Die Familie war ohnehin zu klein, denn Beatrix hatte ihr keinen weiteren Zuwachs verschaffen können. Waren nach Almas Geburt nicht noch zwei Babys zur Welt gekommen? War diesen Babys nicht der erste Atemzug verwehrt geblieben? Und lagen die toten Säuglinge nicht auf dem Lutherischen Friedhof begraben, wo sie niemandem nutzten? Beatrix hatte sich immer ein zweites Kind gewünscht, und nun war kraft der Vorsehung ein Kind gekommen. Dank Polly ließ sich der Nachwuchs der Whittakers über Nacht zahlenmäßig verdoppeln. Alles passte zusammen. Beatrix traf ihre Entscheidung prompt und ohne zu zögern. Henry willigte ohne noch ein weiteres Wort des Protestes ein. Er hatte auch keine andere Wahl.
Das Mädchen war jedenfalls ein hübsches Ding, und es schien auch kein Einfaltspinsel zu sein. Nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte, legte Polly ein schickliches Benehmen an den Tag, eine fast aristokratische Selbstbeherrschung, die bei einem Kind, welches gerade den Tod beider Eltern miterlebt hatte, wirklich bemerkenswert war.
Beatrix sah Polly als vielversprechend an, und sie sah auch, dass es keine andere Möglichkeit gab, als ihr eine ehrbare Zukunft zu geben. Ein anständiges Zuhause und ein guter moralischer Einfluss – dessen war sich Beatrix gewiss – würden das Mädchen auf einen anderen Lebenspfad bringen als den des sündigen Frohsinns, für den die Mutter den höchsten Preis gezahlt hatte. Als Erstes musste sie gesäubert werden. Das arme Geschöpf hatte Blut an Händen und Schuhen. Als Zweites musste ihr Name geändert werden. Der Name Polly passte allenfalls zu einem Ziervogel oder einem käuflichen Straßenmädchen. Von nun an würde das Kind Prudence heißen, ein Name, von dem Beatrix hoffte und erwartete, dass er in eine rechtschaffenere Richtung wies.
Somit war alles geklärt – innerhalb einer Stunde. Und so geschah es, dass Alma Whittaker am nächsten Morgen erwachte und die unglaubliche Information erhielt, dass sie nun eine Schwester habe, eine Schwester namens Prudence.
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Prudence’ Ankunft veränderte alles in White Acre. In ihrem späteren Leben als Frau der Wissenschaft würde Alma begreifen, dass die Einführung eines neuen Elements in ein kontrolliertes Umfeld in vielfacher und unvorhersehbarer Weise auf dieses Umfeld einwirkt, es verändert. Als Kind jedoch hatte sie nur das Gefühl eines feindlichen Übergriffs, das sie mit bösen Vorahnungen erfüllte. Mit warmen Gefühlen nahm Alma den Eindringling jedenfalls nicht auf. Warum auch? Wer von uns hat jemals einen Eindringling mit warmen Gefühlen aufgenommen?
Anfangs konnte Alma nicht im Entferntesten begreifen, warum dieses Mädchen überhaupt da war. Was sie später über Prudence’ Geschichte erfuhr (oder sich, genauer gesagt, aus dem deutschen Getuschel der Milchmägde zusammenreimte), klärte einiges auf. Am ersten Tag nach Prudence’ Ankunft indessen wurden ihr jegliche Erklärungen vorenthalten. Sogar Hanneke de Groot, die normalerweise mehr über Geheimnisse wusste als jeder andere, sagte nur: »Es ist Gottes Plan, mein Kind, und es ist zum Besten.« Als Alma die Hauswirtschafterin
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