Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Henry nannte Prudence sogar »unser kleines Schmuckstück«, was Almas altem Kosenamen Plum etwas Schäbiges, Unansehnliches verlieh. Alles an Prudence gab Alma das Gefühl, schäbig und unansehnlich zu sein.
Freilich gab es auch Trost. Zumindest im Schulzimmer war Alma die Vorrangstellung gewiss. Hier würde Prudence ihre Schwester niemals einholen. Nicht aufgrund von fehlendem Einsatz, denn sie arbeitete hart. Das arme Ding mühte sich mit seinen Büchern wie ein baskischer Steinmetz: Jedes Buch war für Prudence eine Granitplatte, die sie keuchend in der prallen Sonne den Hügel hochschleppen musste. Der Anblick tat beinahe weh, doch Prudence bestand darauf durchzuhalten und brach nicht ein einziges Mal in Tränen aus. Infolgedessen machte sie Fortschritte – eindrucksvolle Fortschritte, wenn man ihre Herkunft bedachte. Mit der Mathematik würde sie immer zu kämpfen haben, die Grundlagen der lateinischen Sprache indessen prügelte sie sich in den Schädel, und nach einer Weile sprach sie auch ganz passabel Französisch, mit einem reizenden Akzent. Was die Schreibkunst betraf, so übte sie unermüdlich, bis sie die Feder so ausgezeichnet führte wie eine Herzogin.
Doch selbst die größte Disziplin genügt im Reich der Gelehrsamkeit nicht, um die wahre Kluft zu überbrücken. Almas intellektuelle Anlagen gingen weit über das hinaus, was Prudence jemals erreichen konnte. Sie hatte ein famoses Gedächtnis für Wörter und eine brillante Auffassungsgabe für Zahlen. Sie liebte Übungsaufgaben, Prüfungen, Formeln, Theoreme. Was Alma ein Mal gelesen hatte, gehörte ihr für immer. Sie konnte ein Argument so zerlegen, wie ein guter Soldat sein Gewehr auseinandernimmt – selbst im Halbschlaf oder im Dunklen wird es meisterhaft in alle Einzelteile zerpflückt. Differential- und Integralrechnung brachte sie in Ekstase. Grammatik war eine alte Freundin, was vielleicht daran lag, dass sie von Kindesbeinen an so viele Sprachen gleichzeitig gesprochen hatte. Sie liebte auch ihr Mikroskop, das ihr wie eine magische Verlängerung des rechten Auges erschien und sie gleichsam in die Lage versetzte, dem Schöpfer durch den Rachen ins Innerste zu schauen.
Aus all diesen Gründen hätte man vermuten können, dass der Hauslehrer, den Beatrix zu guter Letzt für die Mädchen engagierte, Alma ihrer Schwester vorgezogen hätte, doch das tat er nicht. Nein, er war so umsichtig, keiner Vorliebe Ausdruck zu verleihen, und schien beide Mädchen gleichermaßen als Gegenstand seiner Pflichterfüllung zu betrachten. Der Privatlehrer war ein fader junger Mann, von Geburt Brite, mit schlechtem, wachsbleichem Teint und stets bekümmerter Miene. Er seufzte viel. Sein Name war Arthur Dixon, und er hatte unlängst an der Universität von Edinburgh seinen Abschluss gemacht. Beatrix hatte ihn zuvor einem rigorosen Prüfungsverfahren unterzogen, neben mehreren Dutzend anderer Kandidaten, welche sie abgelehnt hatte, weil sie – um nur einige Mängel zu nennen – zu dumm, zu geschwätzig, zu religiös, nicht religiös genug, zu radikal, zu gutaussehend, zu fett oder Stotterer waren.
Während Arthur Dixons erstem Anstellungsjahr saß Beatrix häufig in einer Ecke des Schulzimmers und widmete sich der einen oder anderen Flickarbeit, um sicherzustellen, dass Arthur keine sachlichen Fehler unterliefen und er nicht in unpassender Weise mit den Mädchen umging. Schließlich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass der junge Dixon ein famoser, sterbenslangweiliger Akademiker war, der nicht den leisesten Hang zu kindischen Späßen besaß. Insofern durfte man ihm ohne jeden Vorbehalt zutrauen, die Whittaker-Mädchen vier Tage die Woche zu unterrichten, nach einem Curriculum, das Naturphilosophie, Latein, Französisch, Griechisch, Chemie, Astronomie, Mineralogie, Botanik und Geschichte umfasste. Alma bekam Zusatzaufgaben im Bereich der Optik, der Algebra und der sphärischen Geometrie, welche Prudence – eine ungewöhnlich barmherzige Geste seitens Beatrix – erspart blieben.
Freitags wich man von dieser Stundentafel ab, denn dann machten ein Zeichenlehrer, ein Tanzlehrer und ein Musiklehrer ihre Aufwartung, um den Bildungsplan der Mädchen abzurunden. Morgens wurde von ihnen erwartet, Seite an Seite mit ihrer Mutter in deren griechischem Privatgarten zu arbeiten, wo Schönheit und Mathematik gemeinsam ihren Triumph feierten: Die streng gezirkelten Fußwege und der ornamentale Formschnitt (exakt zu Kugeln, Kegeln und komplizierten Dreiecken gestutzt)
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