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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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packen, rückten die Frauen noch näher zusammen und verstärkten ihren Griff. Der Mann wich zurück. Und das war auch klug von ihm, dachte Alma, als sie die grimmige, wilde Entschlossenheit im Gesicht ihrer Mutter bemerkte. Derselbe Ausdruck lag in Hannekes Gesicht. Diese Wildheit in den Gesichtern der beiden wichtigsten Frauen in Almas Leben jagte ihr einen unerklärlichen Schrecken ein. Hier ging etwas Besorgniserregendes vor sich.
    In diesem Moment wandten sich Beatrix und Hanneke gleichzeitig um und blickten die Stufen hoch zu Alma, die mit der Kerze in der Hand in ihren derben Stiefeln dastand und stumm hinunterstarrte. Sie drehten sich zu ihr um, als hätte sie nach ihnen gerufen, und schienen die Unterbrechung nicht zu begrüßen.
    »Geh ins Bett!«, blafften beide – Beatrix auf Englisch, Hanneke auf Holländisch.
    Alma hätte vielleicht protestiert, doch dieser geballten Kraft hatte sie nichts entgegenzusetzen. Die angespannten, harten Gesichter der beiden machten ihr Angst. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war nicht zu übersehen, dass sie weder gebraucht wurde noch erwünscht war.
    Alma warf einen letzten, bangen Blick auf das schöne Mädchen in der von fremden Menschen bevölkerten Eingangshalle, dann floh sie in ihr Zimmer. Eine Stunde lang saß sie auf der Bettkante und lauschte, bis ihr die Ohren weh taten, in der Hoffnung, jemand käme mit einer Erklärung oder einem tröstenden Wort zu ihr. Irgendwann wurden die Stimmen leiser, Pferde galoppierten davon, doch niemand kam. Schließlich sank Alma auf ihre Decken und schlief mit angezogenen Stiefeln, in ihr Schultertuch gewickelt, ein. Als sie morgens aufwachte, waren die Fremden aus White Acre verschwunden.
    Doch das Mädchen war noch da.
    •
    Ihr Name war Prudence. Prudence, die Umsichtige.
    Oder eigentlich Polly.
    Um genau zu sein, hieß sie Prudence-geborene-Polly.
    Ihre Geschichte war scheußlich. In White Acre versuchte man, sie totzuschweigen, doch Geschichten wie diese lassen sich nicht totschweigen, und innerhalb weniger Tage erfuhr Alma dennoch davon. Das Mädchen war die Tochter des leitenden Gemüsegärtners von White Acre, einem stillen Deutschen, der in gewinnbringender Weise die Konstruktion der Melonen-Gewächshäuser revolutioniert hatte. Die Frau des Gärtners stammte aus Philadelphia, eine Einheimische von niedriger Geburt, wenn auch bemerkenswerter Schönheit, und sie war eine stadtbekannte Hure. Ihr Mann, der Gärtner, liebte sie über alles, konnte sie jedoch nicht bändigen. Auch dies war weithin bekannt. Jahrelang hatte ihn die Frau betrogen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ihre Fehltritte zu verbergen. Er hatte es still erduldet, weil er nichts bemerkte oder tat, als bemerkte er nichts – bis er eines schönen Tages aufhörte, es länger zu ertragen.
    In dieser Nacht zum Dienstag im November des Jahres 1809 hatte der Gärtner seine friedlich neben ihm schlummernde Frau geweckt, sie an den Haaren ins Freie geschleift und ihr quer über den Hals die Kehle durchgeschnitten. Gleich darauf hatte er sich an einer Ulme erhängt. Der Tumult hatte die anderen Arbeiter von White Acre geweckt, und sie kamen aus ihren Häusern gerannt, um zu schauen, was geschehen war. Zwei plötzliche Tode. Zurück blieb ein kleines Mädchen namens Polly.
    Polly war genauso alt wie Alma, jedoch zarter und von bestürzender Schönheit. Sie sah aus wie ein formvollendetes, aus bester französischer Seife geschnitztes Figürchen, in das jemand zwei funkelnde pfauenblaue Augen eingesetzt hatte. Ihr kleiner, weicher Mund mit den sinnlichen rosigen Lippen war indessen der eigentliche Grund, warum dieses Mädchen mehr als nur hübsch war. Er verlieh ihr einen verstörenden Anflug von Lüsternheit, das Flair einer Verführerin im Miniaturformat.
    Als Polly in dieser tragischen Nacht zum Herrenhaus von White Acre gebracht wurde – von Konstablern und stämmigen Arbeitern eskortiert, deren Hände geradezu an ihr klebten –, hatten Beatrix und Hanneke sogleich Gefahr für das Kind gewittert. Einige der Männer schlugen vor, es ins Armenhaus zu bringen, andere ließen hingegen verlauten, wie glücklich sie wären, die Verantwortung für die Waise zu übernehmen. Die Hälfte der anwesenden Männer hatte bereits mit der Mutter des Mädchens kopuliert, was Beatrix und Hanneke sehr wohl wussten, und so wollten sich die beiden Frauen lieber nicht ausmalen, was diesem hübschen Ding, diesem Abkömmling einer Hure, möglicherweise

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