Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
weiter bedrängte, zischte Hanneke: »Mach deinen Frieden damit und hör auf zu fragen!«
Am Frühstückstisch wurden die Mädchen einander in aller Form vorgestellt. Die nächtliche Begegnung fand mit keinem Wort Erwähnung. Alma starrte Prudence an, und Prudence starrte auf ihren Teller. Beatrix sprach mit beiden, als ob alles in bester Ordnung wäre. Sie erklärte ihnen, dass am späten Nachmittag eine Mrs Spanner aus Philadelphia kommen werde, um neue, angemessenere Kleider für Prudence zu fertigen. Auch ein neues Pony werde eintreffen, und Prudence solle Reitstunden erhalten, je früher, desto besser. Zudem werde es in White Acre fortan einen Hauslehrer geben. Beatrix hatte beschlossen, dass es sie zu stark belasten würde, zwei Mädchen gleichzeitig zu unterrichten, und da Prudence in ihrem bisherigen Leben keinerlei Schulbildung erfahren hatte, war ein junger Privatlehrer sicherlich eine Bereicherung für den Hausstand. Die Kinderstube sollte in ein Schulzimmer umgewandelt werden. Selbstverständlich wurde von Alma erwartet, ihre Schwester in der Schreibkunst und im Umgang mit Zahlen zu unterrichten. Alma war Prudence in puncto Geistesbildung natürlich weit voraus, doch wenn Prudence hart und ernsthaft arbeitete, sollte sie mit Unterstützung ihrer Schwester durchaus imstande sein, gute Fortschritte zu machen. Der kindliche Intellekt verfügte Beatrix zufolge über eine beeindruckende Anpassungsfähigkeit, und Prudence sei noch jung genug, um aufzuholen. Bei gewissenhafter Schulung könne der menschliche Geist alles leisten, was man von ihm verlange. Es sei nur eine Frage des Fleißes.
Während Beatrix redete, wandte Alma keinen Blick von ihrer neuen Schwester. Wie konnte jemand ein so bestürzend schönes Gesicht haben? Wenn Schönheit wirklich, wie ihre Mutter immer gesagt hatte, von der Präzision ablenkte, was war dann Prudence? Wahrscheinlich das unpräziseste und verwirrendste Ding auf der ganzen Welt! Almas Unbehagen wuchs. Ein furchtbarer Gedanke begann in ihr zu reifen, ein Gedanke, der ihre Person betraf und zu dem es bisher keinerlei Anlass gegeben hatte: Sie selbst war kein hübsches Ding. Erst durch den schrecklichen Vergleich wurde ihr dies mit einem Mal bewusst. Prudence war zart, Alma kräftig. Prudence’ Haar war wie aus weißgoldener Seide gesponnen, Almas Haar hatte die Farbe und Beschaffenheit von Rost und zudem die unvorteilhafte Neigung, in alle Richtungen zu wachsen, nur nicht nach unten. Prudence’ Nase war eine kleine Blüte, die von Alma eine sprießende Süßkartoffel. Und so ging es weiter, vom Kopf bis zu den Zehen: eine Bestandsaufnahme, wie sie deprimierender nicht hätte sein können.
Als das Frühstück beendet war, sagte Beatrix: »Nun kommt, Mädchen, und umarmt euch wie Schwestern.« Alma umarmte Prudence gehorsam, wenn auch ohne Herzlichkeit. Im direkten Vergleich sprang der Kontrast noch mehr ins Auge. Alma kam es vor, als wäre Prudence ein wunderbares, hübsches Rotkehlchenei und sie ein großer, hässlicher Pinienzapfen, und aus unerklärlichem Grund müssten sie sich plötzlich ein Nest teilen.
Am liebsten hätte sie losgeheult oder um sich geschlagen. Sie spürte, wie sich ihre Miene verfinsterte. Auch ihre Mutter hatte es wohl bemerkt, denn sie sagte: »Prudence, bitte entschuldige uns, ich muss kurz mit deiner Schwester sprechen.« Sie packte Alma so fest am Arm, dass es brannte, und eskortierte sie in die Eingangshalle. Alma spürte, wie ihr die Tränen kamen, doch sie schluckte sie herunter, wieder und wieder und wieder.
Beatrix blickte auf ihre leibliche Tochter herab und sagte mit einer Stimme so kühl wie Granit: »Ich will nie wieder solch einen Ausdruck im Gesicht meiner Tochter sehen wie den, den ich gerade gesehen habe. Hast du mich verstanden?«
Alma konnte nur zittrig das Wörtchen »aber …« herausbringen, da wurde sie auch schon unterbrochen.
»Ausbrüche von Eifersucht oder Boshaftigkeit kann und wird Gott niemals gutheißen«, fuhr Beatrix fort. »Und auch deine Familie kann und wird solche Ausbrüche nicht gutheißen. Wenn du also unschöne, hartherzige Gefühle in dir trägst, dann trenne dich von ihnen wie von einer Totgeburt. Lerne, dich zu beherrschen, Alma Whittaker. Ist das klar?«
Dieses Mal dachte Alma das Wörtchen »aber …« nur; doch irgendwie hatte sie es wohl zu laut gedacht, denn ihre Mutter schien es gehört zu haben. Und nun platzte Beatrix endgültig der Kragen.
»Es tut mir leid für dich, Alma Whittaker, dass du
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