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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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anderen gegenüber so selbstsüchtig bist«, sagte sie mit wutverzerrtem Gesicht. Und fügte abschließend zwei Worte hinzu, die sie ausspie wie scharfe Eissplitter: »Bessere dich.«
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    Auch bei Prudence war freilich Besserung vonnöten, und zwar gehörig!
    Zunächst einmal lag sie in schulischen Dingen weit hinter Alma zurück. Doch wen hätte Alma nicht um Längen geschlagen? Im Alter von neun Jahren war sie in der Lage, Cäsars Kommentare wie auch die Schriften von Cornelius Nepos mühelos im Original zu lesen. Sie konnte bereits Theophrast gegen Plinius verteidigen. Der eine war ein echter Gelehrter und Naturforscher, der andere ein reiner Kopist. Ihr Griechisch, das sie liebte und als eine aufregende Form der Mathematik begriff, wurde von Tag zu Tag besser.
    Prudence hingegen wusste leidlich mit Buchstaben und Zahlen umzugehen. Sie hatte eine liebliche, musikalische Stimme, doch ihre Ausdrucksweise – das flammende Symbol ihrer unseligen Herkunft – bedurfte einiger Korrektur. Zu Beginn von Prudence’ Aufenthalt in White Acre schien Beatrix unentwegt mit spitzer Zunge in allem herumzustochern, was Prudence von sich gab, um jedes falsche Wort, jede ordinär klingende Wendung aufzuspießen und auszumerzen. Auch Alma wurde ermuntert, korrigierend einzugreifen. Beatrix wies Prudence an, niemals »rein« und »raus« zu sagen, sondern stets »hinein« und »hinaus«, was natürlich sehr viel gepflegter klang. Der Ausruf »So was!« war in jedem Kontext ungehobelt, das Gleiche galt für »meine Leute«. Wenn man in White Acre einen Brief schrieb, wurde er nicht »geschickt«, sondern »zugestellt«. Menschen »wurden« nicht krank, sie »erkrankten«; zur Kirche brach man nicht »sofort« auf, sondern »sogleich«. Man war auch nicht »so gut wie« da, sondern »beinahe«. Man »rannte« nicht, sondern »eilte«. Und in der Familie »redete« man nicht, sondern »unterhielt sich«.
    Ein willensschwächeres Kind als Prudence hätte das Sprechen vielleicht gänzlich eingestellt. Ein streitlustigeres Kind hätte vielleicht gefragt, warum Henry Whittaker wie ein gewöhnlicher Hafenarbeiter »reden« durfte. Warum konnte er bei Tisch sitzen und einem anderen Mann ins Gesicht sagen, er sei ein »Hundsfott von einem Esel«, ohne dass Beatrix ihn jemals verbesserte, während die restliche Familie geschliffene Salonkonversation betreiben musste? Doch Prudence war weder schwach noch streitlustig. Stattdessen war sie, wie sich herausstellte, eine Person von unerschrockener, steter Wachsamkeit, die sich, als läge ihre Seele auf dem Schleifstein, täglich verbesserte und achtgab, keinen Fehler zweimal zu machen. Nach fünf Monaten in White Acre bedurfte Prudence’s sprachlicher Ausdruck keinerlei Verfeinerung mehr. Nicht einmal Alma fand noch Fehler, obwohl sie weiterhin danach suchte. Auch andere Aspekte von Prudence’ Auftreten, ihre Körperhaltung, ihre Umgangsformen, ihre tägliche Toilette, hatten sich rasch angeglichen.
    Prudence nahm alle Korrekturen ohne Murren hin. Sie ersuchte sogar darum, besonders bei Beatrix! Wenn Prudence es versäumt hatte, eine Aufgabe ordnungsgemäß auszuführen, wenn sie einem kleinlichen Gedanken nachgehangen oder eine unüberlegte Bemerkung gemacht hatte, berichtete sie Beatrix davon, gestand ihren Fehler ein und ließ sich bereitwillig belehren. So machte sie Beatrix nicht bloß zur Mutter, sondern zur Beichtmutter. Alma, die von klein auf die eigenen Schwächen und Fehler verheimlicht und vertuscht hatte, fand dieses Verhalten unfassbar.
    Infolgedessen begegnete sie ihrer Schwester mit wachsendem Argwohn. Prudence strahlte eine diamantene Härte aus, hinter der sich, so glaubte Alma, etwas Schlechtes, wenn nicht gar Sündhaftes verbarg. Sie hielt Prudence für schlau, vielleicht sogar raffiniert. Wenn Prudence einen Raum verließ, schien sie sich fast unterwürfig hinauszustehlen und zog jedes Mal lautlos die Tür hinter sich zu. Zudem war sie von übertriebener Aufmerksamkeit gegenüber anderen: Nie vergaß sie ein Datum, das jemandem wichtig war, immer achtete sie darauf, den Dienstmädchen zum Geburtstag zu gratulieren, ihnen einen schönen Sonntag zu wünschen und dergleichen mehr. Ihr gewissenhaftes Bestreben, stets gut und nett zu sein, war in Almas Augen genauso überzogen wie ihr stoischer Gleichmut.
    Jedenfalls konnte Alma mit Gewissheit sagen, dass es ihr selbst nicht zum Vorteil gereichte, mit einer so makellosen, gelackten Person wie Prudence verglichen zu werden.

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