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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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begann einen der seltsamsten, wunderbarsten Walzer hinzulegen, die man in Philadelphia jemals gesehen hatte. Henry, der Sonnenkönig, stand strahlend und mit flammendem Haar in der Mitte, während sich die großen und kleinen Männer um ihn drehten und die Frauen um die Männer kreisten. In den abgelegensten Winkeln des Universums glitzerten kleine Gruppen von unverheirateten Mädchen wie unbekannte, ferne Galaxien. Pontesilli kletterte auf eine hohe Gartenmauer, wo er wankend den Takt vorgab und »Haltet das Tempo, Männer! Bleibt auf eurer Flugbahn, Ladys!« in die Nacht hineinschrie.
    Alma wollte dabei sein. Noch nie hatte sie etwas so Aufregendes erlebt. Noch nie war sie so lange wach geblieben – außer wenn sie Alpträume hatte –, doch irgendwie schien man sie in dem fröhlichen Getümmel vergessen zu haben. Außer ihr war kein Kind zugegen, wie schon zeit ihres Lebens nie irgendein anderes Kind zugegen gewesen war. Sie rannte zur Gartenmauer und rief dem gefährlich schwankenden Maestro Pontesilli zu: »Lassen Sie mich mitmachen, Sir!« Der Italiener spähte zu ihr hinunter und versuchte mühsam, sie zu fixieren. Wer war dieses Kind? Beinahe hätte er sie abgewiesen, doch da brüllte Henry aus dem Zentrum des Sonnensystems: »Geben Sie dem Mädchen einen Platz!«
    Pontesilli zuckte die Schultern. »Du bist ein Komet!«, rief der mit einem Arm wedelnde Lenker des Universums.
    »Was tut ein Komet, Sir?«
    »Du fliegst in alle Richtungen!«, befahl der Italiener.
    Und das tat sie. Sie stürzte sich ins Planetengetümmel und stob wirbelnd und quirlend durch sämtliche Umlaufbahnen, bis ihr das Band aus dem Haar rutschte. Jedes Mal wenn sie in die Nähe ihres Vaters kam, rief er: »Komm mir nicht zu nah, Plum, sonst verbrennst du zu Asche!«, und schob sie fort, damit sie von ihm, der glühenden, feurigen Sonne, Abstand nahm.
    Es war kaum zu glauben, doch von irgendwoher bekam sie tatsächlich eine knisternde, brennende Fackel in die Hand gedrückt. Alma sah nicht, von wem. Noch nie hatte man ihr Feuer anvertraut. Die Fackel sprühte Funken und zog einen Schweif aus lodernden Teerstückchen hinter sich her, während Alma als einziger Himmelskörper, der an keine elliptische Bahn gebunden war, durch den Kosmos sauste.
    Niemand bremste sie.
    Sie war ein Komet.
    Sie wusste nicht, dass sie nicht flog.

Kapitel 6
    Almas Jugend, genauer gesagt, deren einfachster, unschuldigster Teil, kam in den frühen Morgenstunden eines ansonsten gewöhnlichen Dienstags im November 1809 zu einem abrupten Ende.
    Alma wurde durch laute Stimmen und das Knirschen von Kutschrädern im Kies geweckt. Wo es zu dieser Stunde im Haus hätte still sein müssen, etwa im Flur vor ihrer Schlafzimmertür oder oben in den Unterkünften der Dienerschaft, waren eilige Schritte zu hören. Sie stand auf, zündete in der kalten Luft eine Kerze an, fand ihre Lederstiefel und griff nach einem Schultertuch. Sie spürte, dass irgendein Ungemach nach White Acre gekommen war und dass vielleicht ihre Hilfe gebraucht wurde. Wenn sie später daran zurückdachte, fand sie die Vorstellung absurd (wie hatte sie allen Ernstes glauben können, dass sie irgendwie helfen könnte?), doch in diesem Moment betrachtete sie sich als junge Dame von fast zehn Jahren und empfand noch ein gewisses Gefühl der Wichtigkeit.
    An der breiten Treppe angelangt, erblickte Alma unten, im großen Eingangsbereich des Hauses, eine Gruppe von Männern mit Laternen. Mittendrin stand ihr Vater, einen Wintermantel über die Nachtkleidung geworfen, mit angespanntem, verärgertem Gesicht. Hanneke de Groot war ebenfalls da, das Haar unter einer Haube versteckt. Auch Almas Mutter war zugegen. Es musste also etwas Ernstes sein. Alma hatte ihre Mutter zu dieser Stunde noch nie wach gesehen.
    Doch es gab noch etwas, worauf Alma unwillkürlich den Blick richtete: Ein Mädchen, kaum kleiner als sie, mit einem langen weißblonden Zopf, stand zwischen Beatrix und Hanneke. Beide Frauen hatten eine Hand auf seine schmalen Schultern gelegt. Irgendwie kam Alma das Mädchen bekannt vor. Vielleicht die Tochter eines der Arbeiter? Alma war sich nicht sicher. Jedenfalls hatte dieses Mädchen, wer auch immer es war, ein wunderschönes Gesicht, auch wenn es jetzt im Licht der Laternen ängstlich und verstört aussah. Doch nicht die Angst des Mädchens beunruhigte Alma, sondern der besitzergreifende Nachdruck, mit dem Beatrix und Hanneke es an den Schultern hielten. Als ein Mann Anstalten machte, das Mädchen zu

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