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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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Arbeit so gedeihlich voranschreiten wie danach.
    Zumal Alma nun einen Ort hatte, an dem sie arbeiten konnte, besaß sie doch ihr eigenes Studierzimmer – oder wenigstens etwas, das sie als solches bezeichnen konnte. Nachdem sie die Remise ausgemistet hatte und alle überflüssigen Bücher ihres Vaters entsorgt waren, hatte sie sich eine der größeren, ungenutzten Sattelkammern im Erdgeschoss angeeignet und zu einem Refugium der Wissenschaften gemacht. Die dortigen Gegebenheiten waren außerordentlich angenehm. Die Remise von White Acre war ein schönes Backsteingebäude, majestätisch und doch beschaulich, mit hohen, gewölbten Decken und breiten, großzügigen Fenstern. Almas Studierzimmer mit seinem sauberen Fliesenboden, dem sanften, von Norden her einfallenden Licht und dem Blick auf den untadeligen griechischen Garten ihrer Mutter war der schönste Raum des Gebäudes. Es roch dort nach Heu, nach Staub und nach Pferden, und das Zimmer war vollgestopft mit einem behaglichen Durcheinander aus Büchern, Korrespondenzen, Sieben, Tellern, Tiegeln, Pflanzenproben, Gläsern und alten Bonbondosen. Zu ihrem neunzehnten Geburtstag hatte die Mutter Alma eine Camera Lucida geschenkt, mit der sie botanische Präparate so vergrößern konnte, dass sie durch Nachzeichnen der Umrisse imstande war, wissenschaftlich präzise Illustrationen anzufertigen. Sie besaß inzwischen auch einen schönen Satz italienischer Prismen, mit denen sie sich fast in der Haut eines Isaac Newton fühlte. Darüber hinaus hatte sie einen guten, stabilen Schreibtisch und für ihre Experimente einen breiten, schlichten Labortisch. Anstelle von Stühlen dienten ihr alte Fässer als Sitzmöbel, von denen sie fand, dass sie mit Röcken praktischer in der Handhabung waren. Sie besaß zudem zwei wunderbare deutsche Mikroskope, die sie – wie George Hawkes durchaus zu Recht bemerkt hatte! – mit beeindruckendem handwerklichen Geschick zu bedienen wusste. Die ersten Winter in ihrem Studierzimmer waren so unangenehm kalt, dass sogar die Tinte gefror, doch bald schaffte sich Alma einen kleinen Franklin-Ofen an und stopfte die Risse in den Wänden eigenhändig mit getrocknetem Moos, so dass ihr Zimmer das ganze Jahr über kaum gemütlicher hätte sein können.
    Hier in der Remise legte Alma ihr Herbarium an, erweiterte ihre Kenntnisse der Klassifizierungslehre und widmete sich immer detaillierteren Experimenten. Ihre alte Ausgabe von Phillip Millers Des Gärtners Wörterbuch las sie wieder und wieder, bis das Buch selbst wie vertrocknetes Blattwerk aussah. Sie studierte neuere medizinische Arbeiten über die heilsame Wirkung von Digitalis bei Patienten mit Wassersucht oder die Verwendung von Kopaivabalsam bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten. Sie arbeitete weiter an der Verbesserung ihrer botanischen Zeichnungen – die nicht eben schön, doch eben schön präzise waren. Sie arbeitete mit unermüdlichem Eifer, und wenn ihre Hand über den Schreibblock flog, bewegten sich ihre Lippen wie im Gebet.
    Während das Leben im restlichen Anwesen seinen geschäftigen, kämpferischen Lauf nahm, in stetem Streben nach Handel, Wettbewerb und Selbstbehauptung, wurden diese beiden Orte – die Bindekammer und das Studierzimmer in der Remise – Almas Fixpunkte, die wie zwei gegensätzliche Pole für Rückzug und Offenbarung standen. Der eine Raum diente dem Körper, der andere dem Geist. Der eine Raum war klein und fensterlos, der andere luftig und lichtdurchflutet. Der eine Raum roch nach altem Leim, der andere nach frischem Heu. Der eine Raum rief heimliche Gedanken wach, der andere Ideen, die öffentlich gemacht und ausgetauscht werden konnten. Beide Räume lagen in separaten Gebäuden, durch Rasenflächen und Gärten getrennt, die ein breiter Kiesweg teilte. Niemand hätte ihre Verbindung jemals erahnen können.
    Doch beide Räume gehörten Alma Whittaker, und in beiden Räumen erblühte sie zum Leben.

Kapitel 9
    Eines Tages im Herbst des Jahres 1819 sah Alma, an ihrem Schreibtisch in die Lektüre des vierten Bandes von Jean-Baptiste de Lamarcks Naturgeschichte der wirbellosen Tiere vertieft, hinter den Fenstern der Remise eine Gestalt durch den griechischen Garten ihrer Mutter spazieren.
    Alma war es gewohnt, dort Arbeiter zu sehen, die ihren Pflichten nachkamen, und bisweilen stolzierte auch ein Pfau oder ein pickendes Rebhuhn über den Rasen, doch dieses Geschöpf war weder Arbeiter noch Vogel. Es war ein zierliches, adrettes, dunkelhaariges Mädchen von

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