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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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etwa achtzehn Jahren in einem hübschen rosa Spazierkleid. Sorglos den grünen, mit Troddeln besetzten Sonnenschirm schwenkend, schlenderte es durch den Garten. Es schien Selbstgespräche zu führen, obschon dies aus der Entfernung nicht mit Gewissheit zu erkennen war. Alma legte ihre Lektüre aus der Hand und sah genauer hin. Die Unbekannte war offenbar nicht in Eile, und so fand sie denn auch bald eine Bank, auf der sie nicht nur Platz nahm, sondern sich kurioserweise der Länge nach niederlegte. Alma wartete, doch das Mädchen rührte sich nicht. Auf dem Rücken liegend, schien es eingeschlafen zu sein.
    All dies erweckte einen recht seltsamen Eindruck. In dieser Woche weilten zwar Gäste in White Acre (ein Experte für fleischfressende Pflanzen aus Yale und ein langweiliger Wissenschaftler, der eine bedeutende Abhandlung über die Belüftung von Treibhäusern geschrieben hatte), doch keiner von ihnen hatte Töchter mitgebracht. Das Mädchen hatte auch eindeutig nichts mit den Arbeitern des Anwesens zu tun. Kein Gärtner hätte es sich leisten können, seiner Tochter einen so schönen Sonnenschirm zu kaufen, und keine Landarbeitertochter wäre derart unbekümmert durch Beatrix Whittakers hinreißenden griechischen Garten flaniert.
    Neugierig erhob sich Alma von ihrem Schreibtisch und trat ins Freie. Vorsichtig näherte sie sich dem Mädchen – sie wollte es nicht aufwecken –, doch bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass es, anstatt zu schlummern, zum Himmel hochstarrte, den Kopf auf ein Kissen aus schwarzen, glänzenden Locken gebettet.
    »Hallo«, sagte Alma und blickte auf die Fremde herab.
    »Oh, hallo!«, erwiderte das Mädchen kein bisschen erschrocken oder auch nur überrascht. »Ich habe gerade dem Himmel für diese Bank gedankt!« Worauf es sich mit einem Ruck aufrichtete und auf den Platz neben sich klopfte. Eine Aufforderung, der Alma gehorsam Folge leistete, nicht ohne ihre Banknachbarin dabei aufmerksam zu mustern. Äußerlich gesehen war sie fraglos ein seltsames Ding. Aus der Entfernung hatte sie hübscher gewirkt. Sicher, sie hatte ein reizendes Antlitz, einen prächtigen Haarschopf und zwei ansprechende Grübchen, doch aus der Nähe betrachtet, sah man, dass ihr Gesicht etwas flach und rund war – fast wie ein großer Teller – und die grünen Augen alles in allem zu groß und zu auffällig. Zudem zwinkerte sie ohne Unterlass. All dies zusammengenommen, wirkte sie überaus jung, nicht sehr gescheit und ein klitzekleines bisschen verrückt.
    Das Mädchen wandte Alma sein wunderliches Gesicht zu und fragte: »Sagen Sie mir doch bitte eins: Haben Sie letzte Nacht die Glocken schlagen hören?«
    Alma dachte über die Frage nach. Ja, sie hatte in der Nacht tatsächlich Glocken gehört. Am Fairmont Hill hatte es gebrannt, und die Glocken hatten in der ganzen Stadt hörbar Alarm geschlagen.
    »Ja, ich habe sie gehört«, antwortete sie.
    Das Mädchen nickte zufrieden, klatschte in die Hände und sagte: »Ich wusste es!«
    »Sie wussten, dass ich letzte Nacht Glocken gehört habe?«
    »Ich wusste, dass diese Glocken echt waren!«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns kennen«, erwiderte Alma vorsichtig.
    »Oh, nein, wir kennen uns nicht! Ich heiße Retta Snow. Ich bin die ganze Strecke bis hierher zu Fuß gegangen!«
    »Tatsächlich? Darf ich fragen, von wo?«
    Fast hätte man als Antwort »Aus den Seiten eines Märchenbuches!« erwartet, doch stattdessen sagte das Mädchen: »Von dort«, und deutete nach Süden. Alma wusste sofort Bescheid. Zwei Meilen den Fluss hinunter gab es ein großes, neues Anwesen. Der Besitzer war ein wohlhabender Textilhändler aus Maryland. Dieses Mädchen musste seine Tochter sein.
    »Ich hatte gehofft, dass ein Mädchen meines Alters hier wohnen würde«, plapperte Retta. »Wie alt sind Sie, wenn ich so geradeheraus fragen darf?«
    »Ich bin neunzehn«, antwortete Alma, obwohl sie sich deutlich älter fühlte, insbesondere im Vergleich zu diesem Püppchen.
    »Großartig!« Retta klatschte wieder in die Hände. »Ich bin achtzehn, was doch gar kein so großer Unterschied ist, oder? Aber nun müssen Sie mir etwas sagen, und ich bitte Sie wirklich um Ehrlichkeit. Was denken Sie über mein Kleid?«
    »Nun …« Mit Kleidern kannte Alma sich nicht aus.
    »Das denke ich auch!«, rief Retta. »Es ist wirklich nicht mein bestes Kleid, nicht wahr? Wenn Sie die anderen gesehen hätten, würden Sie mir noch deutlicher zustimmen, denn ich habe einige erstklassige Kleider. Aber

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