Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Als sie erwachte, lag das Haus in tiefer Stille. Zum ersten Mal seit Monaten verlangte es nichts von ihr. Die Stille klang wie Musik. Sie zog sich gemächlich an und nahm genüsslich ihr Frühstück ein. Dann schlenderte sie durch den griechischen Garten ihrer Mutter, der im Frost glänzte und glitzerte, und erreichte die Remise. Es war Zeit, sich wenigstens für ein paar Stunden mit der Arbeit zu befassen, die sie an jenem Tag, als ihre Mutter die Treppe hinunterfiel, mitten im Satz unterbrochen hatte.
Zu Almas Überraschung schlängelte sich ein dünner Rauchfaden aus dem Kamin der Remise. Und als sie in ihr Studierzimmer trat, lag dort tatsächlich in tiefem Schlaf, unter eine dicke Wolldecke gekuschelt, wie versprochen Retta Snow auf dem Diwan und wartete auf sie.
•
»Retta!« Alma fasste ihre Freundin am Arm. »Was um Himmels willen tust du hier?«
Rettas große grüne Augen flogen auf. Allem Anschein nach hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wo sie war, und schien auch Alma nicht zu erkennen. Etwas Grässliches geschah mit ihrem Gesicht. Ein plötzlicher Ausdruck von Wildheit und Gefährlichkeit erfasste ihre Züge, und Alma schrak unwillkürlich zurück wie vor einem in die Enge getriebenen, knurrenden Hund. Doch dann trat unversehens ein Lächeln in Rettas Gesicht, und der Spuk war vorbei. Sie hatte ihre frische, liebenswürdige Art zurückgewonnen und war wieder sie selbst.
»Meine ergebene Freundin«, murmelte Retta mit verschlafener Stimme und ergriff Almas Hand. »Wer liebt dich sehr? Wer liebt dich mehr? Wer denkt an dich, wenn andere ruhen?«
Alma sah sich in ihrem Zimmer um und erblickte einige leere Keksdosen – offenbar Reste eines kleinen Proviantlagers – und einen wirren Haufen auf den Boden geworfener Kleider. »Warum schläfst du in meinem Studierzimmer, Retta?«
»Weil es bei mir zu Hause unerträglich langweilig geworden ist. Hier ist es natürlich auch unerträglich langweilig, doch zumindest hat man die Chance, ab und zu ein fröhliches Gesicht zu sehen, wenn man nur schön geduldig ist. Wusstest du, dass du Mäuse in deinem Herbarium hast? Warum hältst du dir nicht eine Miezekatze, die würde ihnen bestimmt den Garaus machen. Hast du schon einmal eine Hexe gesehen? Ich glaube ehrlich gesagt, dass letzte Woche eine hier in der Remise war. Ich habe ihr Lachen gehört. Glaubst du, wir sollten es deinem Vater sagen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ratsam ist, hier eine Hexe zu haben. Aber vielleicht würde er mich ja für verrückt halten. Wobei er das wohl sowieso schon tut. Hast du noch irgendwo Tee? Diese kalten Morgenstunden sind abscheulich, findest du nicht? Sehnst du dich nicht auch ganz schrecklich nach dem Sommer? Wo hast du dein schwarzes Armband gelassen?«
Alma nahm auf dem Diwan Platz und drückte die Hand ihrer Freundin an die Lippen. Es war schön, nach dem Ernst der letzten Monate wieder solch einen heillosen Unfug zu hören. »Ich weiß nie, welche deiner Fragen ich als erste beantworten soll, Retta.«
»Fang einfach in der Mitte an«, schlug Retta vor, »und dann arbeitest du in beide Richtungen weiter.«
»Wie sah die Hexe aus?«, fragte Alma.
»Ha! Jetzt stellst du zu viele Fragen!« Retta sprang auf und schüttelte sich, um wach zu werden. »Arbeiten wir heute?«
Alma lächelte. »Ja, ich glaube, heute arbeiten wir – endlich.«
»Und was studieren wir, meine liebste, beste Alma?«
»Wir studieren die Utricularia clandestina , meine liebste, beste Retta.«
»Eine Pflanze?«
»Gewiss doch.«
»Oh, das klingt herrlich!«
»Sei dir da mal nicht so sicher«, erwiderte Alma. »Aber es ist interessant. Und was studiert Retta heute?« Alma hob das Damenjournal auf, das neben dem Diwan auf dem Boden lag, und blätterte in den ihr unverständlichen Seiten.
»Ich studiere Kleider, in denen ein Mädchen, das à la mode ist, vor den Altar treten sollte«, antwortete Retta leichthin.
»Suchst du denn solch ein Kleid?«, fragte Alma in ebenso leichtem Ton.
»Allerdings!«
»Und was hast du mit solch einem Kleid vor, mein Spätzchen?«
»Oh, ich gedenke, es an meinem Hochzeitstag zu tragen.«
»Ein glänzender Einfall!« Alma wandte sich dem Labortisch zu, um einen ersten Blick auf ihre sechs Monate alten Notizen zu werfen.
»Aber weißt du, auf all diesen Zeichnungen sind die Ärmel recht kurz«, plapperte Retta weiter, »und ich fürchte, dass ich darin frieren werde. Mein Hausmädchen meint, ich solle doch ein Schultertuch tragen, aber dann käme
Weitere Kostenlose Bücher