Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
die genannten Maßnahmen in einem Ton verordnest, der Zuversicht und Gewissheit vermittelt, fühlt sich die Mutter weniger hilflos.«
»Danke«, sagte Alma.
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In den ersten Wochen nach Beatrix’ Tod schaute Retta Snow mehrmals in White Acre vorbei, doch Alma und Prudence waren so damit befasst, die familiären Geschäfte ins Reine zu bringen, dass sie keine Zeit für sie erübrigen konnten.
»Ich kann euch doch helfen!«, rief Retta, obschon alle wussten, dass dies ganz und gar unmöglich war.
»Dann werde ich von jetzt an jeden Tag auf dich warten – in deinem Studierzimmer in der Remise«, versprach Retta schließlich, nachdem Alma sie in einem fort abgewiesen hatte. »Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, kommst du. Und dann siehst du mich, und ich kann wieder mit dir reden, während du deine unmöglichen Sachen studierst. Dann erzähle ich dir außergewöhnliche Geschichten, über die du lachen und staunen wirst. Ich habe nämlich allerlei höchst schockierende Neuigkeiten!«
Alma konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals wieder Zeit finden würde, mit Retta über irgendetwas zu lachen oder zu staunen, geschweige denn an ihren eigenen Vorhaben weiterzuarbeiten. Seit dem Tod der Mutter schien sie beinahe vergessen zu haben, dass sie überhaupt jemals an eigenen Vorhaben gearbeitet hatte. Sie war eine Schreibkraft geworden, eine Kopistin, eine an den väterlichen Schreibtisch gekettete Sklavin und Verwalterin eines beängstigend großen Hauswesens, die sich durch einen Dschungel vernachlässigter Aufgaben kämpfte. Zwei Monate lang hielt sie sich nahezu ununterbrochen im Arbeitszimmer des Vaters auf. Auch ihn hinderte sie nach besten Kräften daran, den Raum zu verlassen.
»Ich brauche bei diesen Angelegenheiten deine Hilfe!«, flehte sie. »Sonst holen wir das alles nie auf.«
Doch eines Spätnachmittags im Oktober, mitten im Sortieren, Recherchieren und Kalkulieren, geschah es: Ohne jede Ankündigung erhob sich Henry, spazierte schnurstracks aus dem Arbeitszimmer und ließ Alma und Prudence mit sämtlichen Papieren zurück.
»Wo gehst du hin?«, konnte Alma ihn gerade noch fragen.
»Mich betrinken«, antwortete er grimmig. »Und Gott weiß, wie sehr es mir davor graut.«
»Aber Vater …«, protestierte sie.
»Mach du das zu Ende«, befahl Henry.
Und das tat sie.
Mit Prudence’ und Hannekes Hilfe, größtenteils jedoch im Alleingang, waltete und schaltete sie, bis sie Henrys Arbeitszimmer in einen nahezu perfekten Zustand versetzt hatte. Schrittweise widmete sie sich einem Problem nach dem anderen und regelte so sämtliche Angelegenheiten, bis jeder Auftrag, jede gerichtliche Verfügung, jede Weisung abgehandelt, jeder Brief beantwortet, jede Rechnung bezahlt, jeder Geldgeber beruhigt, jeder Lieferant umschmeichelt und jede Fehde beigelegt war.
Erst als der Januar zur Hälfte verstrichen war, wurde sie fertig und durfte nun mit Fug und Recht von sich behaupten, dass ihr sämtliche Mechanismen der Whittaker Company gänzlich vertraut waren. Fünf Monate hatte sie getrauert. Der ganze Herbst war an ihr vorbeigerauscht, sie hatte ihn weder kommen noch gehen sehen. Sie erhob sich vom Schreibtisch ihres Vaters und nahm das schwarze Trauerband ab. Sie legte es in den Eimer, der den letzten Papiermüll enthielt; dieses Band sollte mit dem übrigen Unrat verbrannt werden. Es war genug.
Dann begab sich Alma geradewegs in die Bindekammer gegenüber der Bibliothek, verriegelte die Tür und befriedigte sich. Seit Monaten hatte sie sich nicht berührt; nun endlich an diese alte, schöne Gewohnheit anzuknüpfen war so befreiend, dass sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Im Übrigen hatte sie seit Monaten nicht mehr geweint. Nein, anders: Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint. Überdies wurde ihr bewusst, dass in der vergangenen Woche ihr einundzwanzigster Geburtstag verstrichen war, ohne dass es jemand bemerkt hatte – nicht einmal Prudence, von der eigentlich immer mit einem kleinen, aufmerksamen Geschenk zu rechnen war.
Was hatte sie freilich erwartet? Sie war älter geworden. Sie war jetzt nicht nur Herrin über das prachtvollste Anwesen von Philadelphia, sondern auch, wie sich gezeigt hatte, Geschäftsführerin eines der größten botanischen Importunternehmen der Welt. Die kindischen Zeiten waren vorbei.
Nach ihrem Besuch in der Bindekammer zog sich Alma aus, nahm – obwohl Samstag war – ein Bad und legte sich um fünf Uhr nachmittags schlafen. Sie schlief volle dreizehn Stunden.
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