Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Wort ergriff, Almas Blick gesucht, als könnte sie ihm Beistand, Trost oder auch nur eine Erklärung geben. Diese flüchtigen Blicke, deren Gegenstand Retta Snow war, zählten zu den schönsten, vertraulichsten Momenten zwischen Alma und George – oder zumindest hatte sie es sich so erträumt.
Doch anscheinend hatte sie sich vieles erträumt.
Nichtsdestoweniger klammerte sich Alma immer noch an die Hoffnung, das Ganze sei vielleicht doch nur eins von Rettas seltsamen Spielchen oder Hirngespinsten. Hatte sie nicht kurz zuvor behauptet, in der Remise gebe es Hexen? Alles war vorstellbar. Allein, Alma kannte Retta zu gut. Nein, diesmal spielte Retta nicht. Diesmal meinte Retta es ernst. Inzwischen plauderte sie weiter über Ärmelprobleme und Schultertücher bei Hochzeiten, die im kühlen Februar stattfanden. Sie machte sich Gedanken über das Kollier, das ihr die Mutter zu leihen gedachte, ein teures Stück, nur leider nicht ganz nach Rettas Geschmack: Und wenn die Kette zu lang ist? Und wenn sie sich im Kleid verheddert?
Mit einem Ruck stand Alma auf und zog Retta vom Boden hoch. Sie konnte nicht mehr still dasitzen und sich diese Dinge anhören. Kein Wort mehr. Ohne jeden Plan für ihr weiteres Vorgehen umarmte sie Retta. Es war deutlich einfacher, sie zu umarmen, als sie anzuschauen. Zudem unterbrach es Rettas Redefluss. Sie drückte das Mädchen so fest an sich, dass sie hörte, wie Retta mit einem überraschten Quieken scharf Luft holte. »Pst«, befahl sie im Glauben, Retta wolle weitersprechen, und griff noch rigoroser zu.
Alma verfügte über außerordentlich starke Arme (echte Hufschmied-Arme, ganz wie ihr Vater), während Retta winzig war und ihr Brustkorb so zart wie der eines kleinen Kaninchens. Es gab Schlangen, die auf diese Weise töteten, mit nichts als einer Umarmung, die fester und fester wurde, bis der Atem des Opfers aussetzte. Alma verstärkte den Druck. Retta gab nochmals ein leises, quiekendes Geräusch von sich. Alma drückte immer stärker zu – so kräftig, dass Retta vom Boden abhob.
Sie dachte an den Tag zurück, an dem sich die drei Mädchen begegnet waren: Alma, Prudence und Retta. »Wenn wir Jungs wären, müssten wir uns jetzt raufen«, hatte Retta gesagt. Dabei war sie keine Kämpfernatur. Bei solch einem Kampf hätte sie eine Niederlage eingesteckt. Und zwar eine üble. Alma schlang ihre Arme noch eine Spur enger um dieses winzige, überflüssige, kostbare Stückchen Mensch. Dabei kniff sie, so fest sie konnte, die Augen zu, ohne damit verhindern zu können, dass Tränen hervorquollen. Sie spürte, wie Retta in ihrer Umklammerung erschlaffte. Es wäre so einfach gewesen, ihr die Luft abzudrücken. Dumme Retta. Süße Retta, die jedem Bemühen, sie nicht zu lieben, Einhalt gebot.
Alma gab ihre Freundin frei.
Retta plumpste zu Boden, und ihr Aufprall ging mit einem leichten Keuchen einher.
Alma zwang sich, etwas zu sagen: »Ich gratuliere dir zu deinem Glück.«
Retta schluchzte auf und griff sich mit zitternden Händen an die Brust. Sie lächelte, töricht und treuherzig. »Was bist du nur für eine liebe, kleine Alma«, stieß sie hervor. »Und du hast mich so gern!«
Mit einer seltsam maskulinen, förmlichen Geste reichte Alma ihrer Freundin die Hand und brachte mit letzter Kraft einen zweiten Satz hervor: »Du hast es in hohem Maße verdient.«
•
»Wusstest du es?« Prudence saß mit einer Handarbeit im Salon, als Alma sie kaum eine Stunde später behelligte.
Die Schwester legte ihre Arbeit in den Schoß, faltete die Hände und schwieg. So tat sie es immer: Auf Gespräche ließ sie sich erst ein, wenn sie sämtliche Begleitumstände erfasst hatte. Alma wartete trotzdem. Sie trachtete danach, etwas aus dem Mund ihrer Schwester zu hören, ihr etwas nachzuweisen, aber was? Prudence’ Gesicht ließ nichts erkennen, und wenn Alma geglaubt hatte, Prudence Whittaker wäre so dumm, in solch einer Situation als Erste das Wort zu ergreifen, dann kannte sie Prudence Whittaker schlecht.
In der Stille spürte Alma, wie ihr Groll in flammende Empörung umschlug, die jedoch bald einem verzweifelten, gereizten Katzenjammer wich. »Wusstest du«, fragte sie abermals und sah sich nunmehr gezwungen, deutlicher zu werden, »dass Retta Snow und George Hawkes heiraten werden?«
Prudence verzog keine Miene, doch Alma sah, wie für einen kurzen Augenblick eine zarte weiße Linie ihren Mund säumte, als hätte ihre Schwester die Lippen unmerklich zusammengepresst. Die Linie verschwand so
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