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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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mit den Händen vor dem Mund herum, als wollte sie die Wörter, die unaufhaltsam ihren Lippen entwichen, einfangen und dorthin zurückverfrachten, woher sie gekommen waren. Gelegentlich geriet Retta, während sie einen wirren Gedanken vorbrachte, mitten im Satz ins Stocken und hielt sich krampfhaft die Hand vor den Mund, um jedes weitere Hervorquellen von Worten zu unterbinden. Diesem Kampf beizuwohnen war, selbst wenn er siegreich endete, außerordentlich bedrückend, denn der letzte, unvollendete Satz schwebte unbehaglich über den Köpfen der Anwesenden, während die gepeinigte Retta ihren stummen Gatten mit aufgerissenen Augen entschuldigend ansah.
    Nachdem sich solche verstörenden Szenen etliche Male wiederholt hatten, stellten Mr und Mrs Hawkes ihre Besuche ein. Alma sah sie nur noch, wenn sie sich in die Arch Street begab, um mit George über verlegerische Details zu sprechen.
    Es zeigte sich, dass der Ehestand Mrs Retta Snow Hawkes ganz und gar nicht behagte. Sie war einfach nicht dafür geschaffen. Das ganze Erwachsensein behagte ihr nicht. Beides ging mit zu vielen Einschränkungen einher, zu viel Ernsthaftigkeit, zu vielen Erwartungen. Retta konnte nun nicht mehr das kleine, törichte Mädchen sein, das in seiner zweirädrigen Chaise nach Lust und Laune durch die Stadt vagabundierte. Als Gattin und Gefährtin eines der angesehensten Verleger von Philadelphia erwartete man von ihr, sich dementsprechend zu verhalten. Es schickte sich nicht mehr für Retta, allein ins Theater zu gehen. Nun, eigentlich hatte es sich noch nie geschickt, doch in der Vergangenheit hatte es ihr niemand verboten. George verbot es ihr. Er selbst fand keinen Gefallen am Theater. Des Weiteren verlangte George von seiner Frau, mehrmals wöchentlich den Gottesdienst zu besuchen, wo Retta, sich windend vor Langeweile wie ein Kind, die Zeit absaß. Seit ihrer Hochzeit durfte sie sich auch nicht mehr so farbenfroh kleiden und kein Liedchen mehr trällern, wann immer es ihr in den Sinn kam. Sie hätte es vielleicht tun können und tat es auch dann und wann, doch es gehörte sich nicht und brachte ihren Gatten zur Weißglut.
    Was die Mutterschaft betraf, so hatte sich Retta auch dieser Verantwortung nicht stellen können. Binnen eines Jahres nach Eheschluss hatte sich im Hause Hawkes eine Schwangerschaft eingestellt, die jedoch mit einer Fehlgeburt endete. Im nächsten Jahr erfolgte abermals eine missglückte Schwangerschaft, ein Jahr später die nächste. Als Retta ihr fünftes Kind verlor, zog sie sich in blindwütiger Verzweiflung in ihr Zimmer zurück. Die Nachbarn, so hieß es, konnten noch einige Häuser weiter ihr Schluchzen hören. Der arme George Hawkes hatte keine Ahnung, was er mit seiner aufgelösten Frau tun sollte; tagelang hielt ihn Rettas Umnachtung von der Arbeit fern. Schließlich schickte er eine Nachricht nach White Acre mit der Bitte, Alma möge in die Arch Street kommen und ihrer alten, untröstlichen Freundin beistehen.
    Als Alma eintraf, schlief Retta schon, mit einem Daumen im Mund, die Strähnen ihres prachtvollen Haars auf dem Kissen wie schwarze, nackte Äste vor einem bleichen Winterhimmel. Die Apotheke habe ein wenig Laudanum geschickt, erklärte George, und es scheine wohl zu wirken.
    »Bitte, George, versuchen Sie, dies nicht zur Gewohnheit werden zu lassen«, hatte Alma ihn gewarnt. »Retta verfügt über eine ungewöhnlich empfindsame Konstitution, zu viel Laudanum könnte ihr schaden. Ich weiß, dass ihr Verhalten bisweilen etwas widersinnig sein kann und mitunter geradezu desaströs. Ich denke aber, dass Retta lediglich Geduld und Liebe braucht, um den Weg zurück in ein glückliches Leben zu finden. Vielleicht lassen Sie ihr noch ein bisschen Zeit …«
    »Es tut mir leid, Sie belästigt zu haben«, sagte George.
    »Das haben Sie doch nicht«, erwiderte Alma. »Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ihnen und natürlich auch Retta.«
    Alma hätte gern noch etwas hinzugefügt – doch was? Sie spürte, dass sie vielleicht schon zu frei gesprochen, ja ihn vielleicht sogar als Ehegatten kritisiert hatte. Armer Mann. Er war ausgelaugt.
    »Seien Sie meiner Freundschaft gewiss«, sagte sie und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Und nutzen Sie sie. Sie können mich jederzeit rufen.«
    Nun, das tat er. Er rief Alma, als sich Retta im Jahre 1826 die Haare abschnitt. Er rief Alma, als Retta im Jahre 1835 drei Tage lang vermisst wurde, bis man sie in Fish Town wiederfand, schlafend inmitten einer Horde von

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