Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
aufgerissenen Augen sprach Panik.
»Sie kann nicht mehr hierbleiben.«
»Sie ist Ihre Ehefrau, George.«
»Ich weiß, dass sie das ist! Ich weiß, dass sie das ist. Aber sie kann nicht hierbleiben, Alma. Sie ist nicht mehr in Sicherheit hier, niemand ist mehr in Sicherheit. Sie hätte uns umbringen und auch noch die Druckerei anzünden können. Sie müssen etwas finden, wo sie bleiben kann.«
»Ein Krankenhaus?«, fragte Alma. Retta war schon so oft im Krankenhaus gewesen; nie hatte man etwas für sie tun können. Wenn sie heimkam, war sie jedes Mal noch erregter und getriebener als zuvor.
»Nein, Alma. Sie braucht eine dauerhafte Bleibe. Ein anderes Zuhause. Sie wissen, was ich meine! Ich kann sie keine Nacht mehr hierbehalten. Sie muss hier fort. Sie müssen mir das verzeihen, Alma. Sie sind besser informiert als jeder andere, und nicht einmal Sie wissen in vollem Umfang, was aus ihr geworden ist. Ich habe die ganze letzte Woche kein Auge zugetan. Niemand findet noch Schlaf in diesem Haus, aus Furcht vor dem, was passieren kann. Tag und Nacht müssen zwei Personen bei ihr sein, damit sie sich oder anderen keinen Schaden zufügt. Zwingen Sie mich nicht, mehr zu sagen! Ich weiß, dass Sie begriffen haben, worum ich Sie bitte. Sie müssen sich dieser Sache annehmen.«
Und das tat Alma, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, warum eigentlich sie diejenige war, die sich dieser Sache annehmen musste. Es bedurfte lediglich einiger Briefe an die geeigneten Adressaten, um die Aufnahme ihrer Freundin in die Griffon-Irrenanstalt in Trenton, New Jersey, in die Wege zu leiten. Das Gebäude war erst im vergangenen Jahr errichtet worden, und Dr. Griffon – einst Gast auf White Acre und in Philadelphia eine höchst angesehene Person – hatte es selbst entworfen, um den gestörten Seelen größtmögliche Ruhe angedeihen zu lassen. In Amerika zählte er zu den führenden Verfechtern einer moralischen Inobhutnahme von Geistesgestörten, und seine Methoden waren, so hieß es, recht human. So wurden seine Patienten beispielsweise nicht angekettet, wie es etwa in der Krankenanstalt von Philadelphia einmal mit Retta geschehen war. Die Irrenanstalt, so hieß es, sei ein ansprechender, friedlicher Ort mit schönen Gärten und den erwartbaren hohen Mauern. Alles in allem sei es kein unerfreuliches Umfeld, erzählte man sich. Und nicht einmal teuer, wie Alma feststellen durfte, als sie im Voraus die Kosten für das erste Jahr von Rettas Aufenthalt beglich. Sie hatte George nicht damit behelligen wollen, und Rettas Eltern waren längst verschieden, wobei sie ihrer Tochter ohnehin nichts als Schulden hinterlassen hatten.
Es war eine traurige Angelegenheit, all diese Vorkehrungen zu treffen, wenn auch alle darin übereinkamen, dass es wohl das Beste sei. Retta sollte in Griffon ein eigenes Zimmer haben, damit sie nicht Gefahr lief, andere Patienten zu verletzen; ferner würde jederzeit eine Pflegerin bei ihr sein. Diese Gewissheit war tröstlich. Darüber hinaus wurden in dieser Anstalt moderne, wissenschaftliche Therapien angewandt. So sollte Rettas Verrücktheit mit Hydrotherapie, Rotationsbrett und einer human gestalteten moralischen Unterweisung behandelt werden. Zugang zu Feuer oder Scheren war ihr grundsätzlich verwehrt. Letzteres war Alma von Dr. Griffon persönlich zugesichert worden, der Rettas Störung bereits als eine »Erschöpfung des Nervenreservoirs« diagnostiziert hatte.
So traf Alma sämtliche Vorkehrungen. George musste nur noch die Bescheinigung über Rettas Unzurechnungsfähigkeit unterschreiben und seine Frau gemeinsam mit Alma nach Trenton begleiten. Sie nahmen sich eine Kutsche, da die Zugfahrt mit Retta ein zu großes Risiko dargestellt hätte. Alma hatte vorsichtshalber einen Gurt im Gepäck, um ihre Freundin gegebenenfalls bändigen zu können, doch Retta verhielt sich unauffällig und summte sogar unbekümmert das eine oder andere Liedchen vor sich hin.
Als sie die Irrenanstalt erreichten, marschierte George entschlossen zwischen den weiten Rasenflächen auf den Haupteingang zu, hinter ihm Alma und Retta, Arm in Arm, plaudernd wie bei einer sonntäglichen Promenade.
»Wie hübsch dieses Haus ist!«, sagte Retta und zeigte voller Bewunderung auf das elegante Backsteingebäude.
»Das finde ich auch«, antwortete Alma erleichtert. »Ich bin froh, dass es dir hier gefällt, Retta, denn von nun an wirst du hier leben.« Ob Retta den Sinn dieser Reise eigentlich begriffen hatte, ließ
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