Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Straßenkindern. Er rief sie im Jahre1842 , als Retta mit einer Schneiderschere auf ein Hausmädchen losging, von dem sie behauptete, es sei ein Geist. Das Hausmädchen erlitt keine ernstlichen Verletzungen, doch von nun an war niemand mehr bereit, Retta das Frühstück zu bringen. Und er rief Alma im Jahre1846 , als Retta begonnen hatte, lange, unverständliche Briefe zu verfassen, bei denen mehr Tränen flossen als Tinte.
George wusste mit derartigen Szenen und Wirrnissen nicht umzugehen. Für ihn waren es schauderhafte Episoden, die ihn von seinen Geschäften und seiner geistigen Arbeit ablenkten. Inzwischen brachte er jedes Jahr über fünfzig Bücher heraus, dazu eine Reihe von wissenschaftlichen Fachzeitschriften sowie einen in der Planung befindlichen, aufwendigen Oktavband exotischer Pflanzen, der vierteljährlich im Abonnement erhältlich sein sollte, illustriert mit riesigen, handkolorierten Lithographien bester Qualität. All diese Unternehmungen verlangten seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Er hatte keine Zeit für eine verrückte Ehefrau.
Auch Alma hatte keine Zeit, doch sie kam trotzdem. In besonders schlechten Phasen verbrachte sie zuweilen sogar die Nacht bei Retta, im Hawkes’schen Ehebett, die Arme fest um ihre zitternde Freundin geschlungen, während George in der benachbarten Druckerei auf einer Pritsche schlief. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ohnedies ständig dort schlief.
»Wirst du mich noch mögen und lieb zu mir sein«, wollte Retta einmal in tiefster Nacht von Alma wissen, »wenn ich der Teufel bin?«
»Ich werde dich immer liebhaben«, versicherte Alma der einzigen Freundin, die sie jemals gehabt hatte. »Außerdem kannst du gar kein Teufel sein, Retta. Du musst dich nur ausruhen und zusehen, dass du dir selbst und anderen keinen Kummer mehr bereitest …«
Nach solchen Nächten nahm man am nächsten Morgen im Speisezimmer der Hawkes gemeinsam das Frühstück ein. Anheimelnd waren diese Zusammenkünfte nie. George war schon unter idealen Bedingungen kein Meister der Konversation, und Retta wirkte – abhängig von der jeweiligen Laudanum-Dosis, die man ihr in der Nacht verabreicht hatte – überreizt oder benommen. Lichte Augenblicke wurden immer seltener. Hin und wieder kaute Retta auf einem Tuch herum, das sie sich partout nicht aus der Hand nehmen ließ. Derweil suchte Alma nach einem Thema, das allen behagte, doch solch ein Thema existierte nicht, hatte niemals existiert. Sie konnte mit Retta über unsinnige Dinge reden und mit George über Botanik, ihr Bemühen um ein Gespräch zu dritt blieb erfolglos.
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Im April des Jahres 1848 ereilte Alma wieder ein Ruf von George Hawkes. Sie war gerade in der Remise damit befasst, ein schlecht erhaltenes Dicranum consorbrinum -Exemplar zu rekonstruieren, das ihr ein Amateursammler aus Minnesota kürzlich zugesandt hatte, da traf aus heiterem Himmel ein berittener Bursche mit einer dringenden Nachricht ein: Miss Whittakers Anwesenheit in der Arch Street im Hause Hawkes sei dringend erbeten, es habe einen Unfall gegeben.
»Was denn für einen Unfall?« Alma hatte sich erschrocken von ihrem Labortisch erhoben.
»Ein Brand!«, rief der Junge mit einer Begeisterung, die er kaum zu verbergen wusste. Welcher junge Bursche war nicht von Bränden fasziniert?
»Du lieber Himmel! Ist jemand verletzt worden?«
»Nein, Ma’am«, lautete die hörbar enttäuschte Antwort.
Wie Alma bald erfuhr, hatte Retta in ihrem Schlafzimmer Feuer gelegt. Aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, ihr Bettzeug und ihre Vorhänge zu verbrennen. Es war ein feuchter Tag, weshalb der Stoff gottlob nicht in Flammen aufging, sondern nur verglomm. Gleichwohl war durch die extreme Rauchbildung erheblicher Schaden im Zimmer angerichtet worden. Der Schaden, den die Stimmung unter den Bediensteten nahm, war noch ärger. Zwei weitere Hausangestellte hatten gekündigt. Man konnte niemandem mehr zumuten, weiter unter einem Dach mit Retta zu leben. Wer hätte diese verrückte Herrin noch ertragen können?
Als Alma eintraf, war George bleich, erschöpft und heillos überfordert. Retta lag schlafend hingestreckt auf einem Sofa; man hatte ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht. Es roch nach Nässe und verbranntem Holz.
»Alma!« George eilte ihr entgegen und ergriff ihre Hand. Das hatte er bis dahin nur ein einziges Mal getan, vor über drei Jahrzehnten. Doch nun war es anders. Allein der Gedanke an das letzte Mal beschämte Alma. Aus Georges
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