Das Wesen. Psychothriller
über den Rücken. »Was, wenn nicht irgendeine Polin, sondern
Nicole
damals ein Kind von ihm bekommen hat?«
Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
»Denk doch mal nach. Am 18. Juni 2007 ist Sarah Lichner geboren. Und ein paar Wochen später:
In der Hütte.
Na?«
»Aber …« Meine gottverdammten Gedanken waren noch immer so träge wie ein Automotor morgens bei Minus 20 Grad. »Der Eintrag im Krankenhaus war doch falsch.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, in dem ich in diesem Moment – es mag an den Lichtverhältnissen gelegen haben – leicht irre Züge zu erkennen glaubte, die mir wirkliche Angst machten. »Aber das ist es ja, Alex. Dilettantisch, mit falschen Ärztenamen. Überleg doch mal. Was tue ich, wenn ich möchte, dass jemand, der nachforscht, schnell auf die Idee kommt, dass der Eintrag gefälscht ist? Na? Ich ändere nicht einfach nur die Namen des Arztes und der Hebamme ab, nein, ich bin viel schlauer: Ich benutze Namen, die gar nicht existieren, denn dann kann ich ganz sicher sein, dass es auffliegt. Und sein Freund Diesch hat das für ihn erledigt.«
»Bitte, Bernd, erzähl mir ohne Fragen und Ratespielchen, in ein paar verständlichen Sätzen, was genau du glaubst.«
»Ich glaube, Lichner ist bei seinem ersten Freigang zu Nicole marschiert und hat sie wieder unter seine Kontrolle gebracht. Er hat sie geschwängert. Kurz, nachdem er entlassen wurde, kam das Kind zur Welt, und weil Lichner wusste, dass sein ehemaliger Zellengenosse im Klinikum auf der entsprechenden Station arbeitet, sind sie da hingegangen. Ich weiß noch nicht, welche Rolle die Drecksbude in der Zeppelinstraße spielt, aber aus irgendwelchen Gründen war es Lichner wohl wichtig, so was wie ein Doppelleben zu führen. Vielleicht, weil er seine Neigung kennt und sich selbst nicht traut. Er baut sich einen doppelten Boden in diese ganze Sache mit Nicole und dem Kind ein. Er weiß ganz genau, wenn das Kind verschwindet oder so, dann wird er sofort verdächtigt, also sorgt er vor. Als es ihn dann tatsächlich wieder packt und er das Mädchen umbringt, wird die Punker-Nachbarin bestochen, damit sie ein bisschen Verwirrung stiftet, und Kollege Diesch bekommt einen Anruf, woraufhin er kleine Modifikationen an der Patienten-Datenbank vornimmt. Und schwupp – wir glauben, dass jemand dem armen Joachim Lichner übel mitgespielt hat, und der Fall wird als erledigt betrachtet.«
Menkhoff sah mich erwartungsvoll an, als warte er darauf, dass ich ihm lobend auf die Schulter klopfe. Das war mit Abstand die verrückteste Geschichte, die ich jemals gehört hatte, und dass es mein Partner war, der sie mir im Brustton der Überzeugung auftischte, verwirrte mich, mehr noch, es machte mich betroffen.
»Bernd, überleg doch mal, wäre das nicht ein zu großer Zufall?«, fragte ich vorsichtig. »Dass Diesch ausgerechnet auf dieser Station arbeitet? Und wie hätte Lichner ein Kind zwei Jahre lang versteckt halten können? Es müsste doch irgendwelche Unterlagen geben, Arztbesuche, was weiß ich. Es muss Leute geben, die dieses Kind gesehen haben. Und selbst wenn man das alles außer Acht lässt, was ist mit Nicole? Glaubst du wirklich, sie würde stillhalten, wenn Lichner ihrem Kind etwas antut? Bernd?« Menkhoff sah an mir vorbei ins Leere und kaute dabei auf seiner Unterlippe, er schien krampfhaft nachzudenken. Dieser Gesichtsausdruck machte mir Angst. »Bernd, bitte, diese Geschichte … Glaubst du das etwa wirklich?«
Sein Blick kam aus dem Nichts zurück und fand meine Augen wieder. Er holte Luft, setzte an, etwas zu sagen, stockte, setzte wieder an. »Nein. Nein.« Es war fast ein Flüstern, und seine Augen wurden dabei glänzend, feucht. Es war erschütternd, diesen Mann so vor mir zu sehen, und trotzdem verspürte ich eine deutliche Erleichterung, denn der seltsame, irre Zug war aus seinem Gesicht verschwunden. »Dass dieser miese Scheißkerl Nicole wieder unter seiner Kontrolle hat, das macht mich verrückt. Du hast doch damals an ihrem Hals gesehen, was er mit ihr gemacht hat, Alex. Was glaubst du, was er ihr jetzt antut? Nachdem
sie
damals gegen ihn ausgesagt hat? Nachdem er über 13 Jahre im Knast saß?«
Er machte eine Pause. Ich hielt mich zurück und gab ihm die Zeit, die er brauchte.
»Ich liebe meine Frau, Alex, und Luisa vergöttere ich, das weißt du. Aber … ich habe Nicole noch immer nicht vergessen, das werde ich auch nie, und der Gedanke daran, was ihr passiert
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