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Das Wetter vor 15 Jahren

Das Wetter vor 15 Jahren

Titel: Das Wetter vor 15 Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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problematischste Stelle des Buches.
    Wolf Haas Das wundert mich nicht.
    Literaturbeilage Sie lassen Herrn Kowalski über die fünfte und letzte Frage sagen: „Ich werde nie vergessen, wie Gottschalk lächelnd den allerersten Tag der fünfzehn Jahre nannte. Als hätte er ürgendwas gespürt!" Herr Haas, ich hab mir vor unserem Gespräch das Video der Sendung kommen lassen. Die ersten vier Tage, nach denen Gottschalk fragt, sind authentisch. Aber die fünfte Frage -
    Wolf Haas - war eine andere. Ich weiß. Aber es geht um die Auswirkung auf ihn. Und die war eben dieselbe, als hätte Gottschalk wirklich nach dem allerersten Tag der fünfzehn Jahre gefragt. Weil an diesem konkreten Tag, nach dem Gottschalk in Wirklichkeit fragte, war eben ein ähnliches Wetter wie an dem Tag, als die beiden Kinder sich das letzte Mal gesehen haben.
    Literaturbeilage An dem Tag, als alles vorbei war.
    Wolf Haas Ja, oder an dem alles begonnen hat. Je nach Sichtweise. Aber „ein ähnliches Wetter", das wäre mir erzählerisch viel zu kompliziert geworden. Und es bringt nichts! Da muss man sich beim Schreiben einfach manchmal entscheiden. Ich wollte, dass es jetzt schnell geht. Es bringt null, wenn ich umständlich erzähle, das Wetter, nach dem Gottschalk fragte, hat ihn an den Tag erinnert, wo er mit Anni zum Schmugglerlager hinaufgegangen ist. Das sind einfach Fragen der Textökonomie. Lieber ein bisschen Zufall schlucken, als drei Seiten lang „erinnerte ihn an" lesen müssen.
    Literaturbeilage Und Zufall kann man ja notfalls immer noch mit dem Motto Ihrer Tante Emma begründen. Oder Berta?
    Wolf Haas Ja Sefa, ja genau. Sonst wär's kein Film.
    Literaturbeilage Gottschalk nennt also das Datum, und Herr Kowalski reagiert überhaupt nicht.
    Wolf Haas Reagiert hat er schon. Aber nur körperlich. Er hat unglaublich zu schwitzen angefangen.
    Literaturbeilage Ich fand das sehr schön, wie er in dem Moment, wo ihn wegen der Frage endlich die ganze An-ni-Katastrophe einholt, innerhalb einer Sekunde durchnässt ist. Genau wie damals! Aber diesmal nicht vom Regen, sondern wegen Annis Pulli, den er unter dem Sakko trägt!
    Wolf Haas Wobei ich sagen muss, das erfährt man an der Stelle noch gar nicht, dass es der Pulli ist, den Anni ihm gestrickt hat.
    Literaturbeilage Das erfährt man erst ganz hinten, wo der Pulli ihm eigentlich das Leben rettet.
    Wolf Haas Ja, hier beim Live-Auftritt heißt es nur, dass ihm einfach wegen der TV-Scheinwerfer viel zu heiß wird. Weil er eben einen dünnen Unterziehpulli unter dem Sakko trägt. Aber nicht, dass es Annis Pulli ist.
    Literaturbeilage Weil er sich ohne einen Pulli, wie Sie schreiben, „nicht richtig angezogen fühlt".
    Wolf Haas (lacht) Ja, das hat er von mir. Aber der Pulli ist natürlich ein Ablenkungsmanöver. Er schwitzt wegen dem Pulli, okay. Und wegen den Scheinwerfern. Aber dass er von einem Moment auf den anderen im Wasser steht, liegt natürlich am -
    Literaturbeilage - am Wetter.
    Wolf Haas Einfach an seinem Blackout. Weil ihn Gottschalks Frage voll am falschen Fuß erwischt.
    Literaturbeilage Beim Lesen hat man ja den Eindruck, dass er die Frage ohne Gottschalks Hilfe nicht mehr geschafft hätte.
    Wolf Haas Das ist am Video ganz eindeutig. Wie Gottschalk versucht, ihm über sein Blackout hinwegzuhelfen. Gottschalk wiederholt das Datum, Gottschalk betont mehrmals „Hooochsommer", aber Herr Kowalski steht nur da und schwitzt.
    Literaturbeilage Er ist mit seinen Gedanken bei seinem Hochsommertag vor fünfzehn Jahren.
    Wolf Haas Bei „seinem" Hochsommertag, das klingt schön.
    Literaturbeilage Als er mit Anni zu dem Schmugglerlager hinaufgegangen ist.
    Wolf Haas Er ist wirklich weggedriftet zu diesem Unglückstag, als er das letzte Mal bei Anni war.
    Literaturbeilage Man sieht eigentlich nur, dass Gottschalk ihn kurz am Ellbogen berührt, als wollte er ihn wachrütteln.
    Wolf Haas Ja, ich glaube, das war der entscheidende Moment. Durch diese kurze Berührung ist er irgendwie wieder zu sich gekommen. Und er murmelt: „Ein Wetter." Ganz leise. Aber weil er sich vor Scham in seinem totalen Unbehagen das Mikrofon so nahe vors Gesicht hält, um sich irgendwie dahinter zu verstecken, hört man's trotzdem total laut: „Ein Wetter." Man hört es bis in die hinterste Reihe der Westfalenhalle, und man hört es in ganz Deutschland und in der Schweiz und bis in den hintersten Winkel von Österreich, wie er sagt: „Ein Wetter."
    Literaturbeilage Sonst hat er ja überhaupt nichts gesagt!
    Wolf Haas

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