Das Wiegen der Seele (German Edition)
warf sie auf den Boden. Schulterhalfter, Ledergürtel, Handschellen und die Dienstmarke legte er auf den Nachttisch. Splitternackt ging er ins Bad, stieg in die Duschwanne und öffnete das Warmwasserventil. Trichterförmig schoss das heiße Wasser aus dem Duschkopf. In Sekundenschnelle füllte sich die Duschkabine mit Wasserdampf, sodass Nettgen seinen Namen in Druckbuchstaben auf die beschlagende Plexiglasscheibe schmieren konnte. Sein Körper dampfte, während er sich mit Duschgel eincremte und minutenlang bewegungslos die heißen, wohltuenden Wasserstrahlen auf sich prasseln ließ. Die Sonne schien durch das Fenster des Badezimmers, als Nettgen schließlich die Schiebetür aufzog und nach seinem Handtuch griff, das über dem Waschbecken hing. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, stand er vor dem Spiegel und strich sich über die Bartstoppeln.
Auf seinem Gesicht machte sich langsam ein Grinsen breit, weil er sich vorgenommen hatte, dass der heutige Abend ein ganz besonderer werden sollte. Er fühlte sich wie ein Teenager vor seinem ersten Date und putzte sich entsprechend heraus. Vor dem Schrankspiegel im Schlafzimmer betrachtete er anschließend sein Werk. Sein mit Gel durchzogenes Haar glänzte im Lampenlicht. Die wild durcheinanderstehenden Strähnen ließen ihn attraktiv, fast jungenhaft erscheinen. Wo vorher noch kratzige Bartstoppeln gestanden hatten, glänzte nun eine samtweiche Haut, und ein süßlich-herber Duft von Aftershave hing in der Luft.
Er trug ein modisches, körperbetontes Hemd, dessen Streifenmuster schlicht, aber schön hervortrat. Dazu eine dunkelgraue Anzughose und schwarze, polierte Lederschuhe, die er bisher kaum getragen hatte. Sein Spiegelbild zwinkerte ihm zu. Er war zufrieden.
Dann machte er sich auf dem Weg zum Supermarkt. Er ging zu Fuß, denn der Markt befand sich gleich eine Straße weiter, praktisch um die Ecke. Nachdem er alle benötigten Waren eingekauft hatte, ging er noch eine Straße weiter zum Blumengeschäft. Dort wollte er zunächst Rosen kaufen, besann sich aber dann eines Besseren und erstand einen bunten Strauß in herrlichen Pastelltönen. Zufrieden machte er sich auf den Rückweg. Die Rosen wären wohl doch etwas gewagt gewesen. Während er an Vorgärten, Schaufenstern und spielenden Kindern vorbeischlenderte, schaute er auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es inzwischen bereits halb sieben war.
Schnell lieferte er alles – bis auf die Blumen – in seiner Wohnung ab und machte sich dann auf Weg zum Hauptbahnhof. Dort hoffte er, das passende Schließfach zu dem Schlüssel zu finden, den er noch immer bei sich trug. Auch wenn der Fall angeblich abgeschlossen war, interessierte ihn der Inhalt des Schließfaches doch brennend.
Sein Weg führte ihn vorbei am Kaufhof . Die Junkies und Transvestiten weilten schon müde und teils bewusstlos in ihren elenden kleinen Welten zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt. Ein paar Säufer lagen bettelnd herum wie Treibholz, ihre leeren Flaschen noch in der Hand. Im Gebäude des Essener Hauptbahnhofes wäre er beinah in einen fliegenden Händler gerannt, der seinen Verkaufswagen für belegte Brötchen, Mineralwasser, Kaffee und Süßigkeiten durch die Gegend schob. „ Tschuldigung “, murmelte er vor sich hin, während er an den unterschiedlichsten Menschen vorbeieilte, die an den Gleisen warteten oder aus den Zügen getrottet kamen. Er sah Halbwüchsige mit Rucksäcken, visuelle Katastrophen, deren Visagen eher einer Comicfigur ähnelten und Personen, die wegen ihrer Fettleibigkeit den ersten Preis bei Rettet die Wale gewonnen hätten. An solchen Orten sah man, dass Essen eine tolerante Metropole war, die auch für Randgruppen der Gesellschaft eine lebenswerte Umgebung bot. Nettgen suchte die Schließfächer und genoss die multikulturellen Eindrücke.
Ein Stück weiter standen zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes und wiesen ein paar Asiaten den Weg. Nettgen steuerte auf sie zu und sprach einen Beamten an .
„Hallo, können S ie mir sagen, wo ich die Schließfächer finde ? “
„Klar kann ich das“, antwortete der Polizist freundlich. „Weiter geradeaus bis zu den Toiletten dort vorn, dann links, ein Stück geradeaus und den zweiten oder dritten Gang rechts, ist auch ausgeschildert“ , sagte er und wies auf ein Schild, das über Nettgens Kopf den Weg zu allen möglichen Orten zeigte, die ein Reisender finden wollte.
Nettgen hätte sich in den Hintern beißen können, dass er nicht auf die Schilder geachtet hatte.
Weitere Kostenlose Bücher