Das Wiegen der Seele (German Edition)
schon ins Wort und eröffnete das Gefecht.
„Hier Nettgen! Ich kann es einfach nicht glauben! Ich werde es nicht so einfach hinnehmen, dass der Fall Crampton abgeschlossen sein soll!“
Er redete ohne Punkt und Komma auf seinen Boss ein und steigerte sich so sehr in seine Wut hinein, dass er sogar dessen Autorität in Frage stellte.
„Hier geht irgendetwas vor! Wenn Sie mir schon nicht glauben wollen, dass die Mordserie längst nicht beendet ist, dann sehen Sie die Sache gefälligst von ihrem verdammten kriminologischen Standpunkt aus und geben Sie zu, dass hier Dinge geschehen, die wir nicht erklären können, und fragen Sie sich, warum das wohl so ist! Seit Wochen beschäftige ich mich Tag und Nacht mit den Ermittlungen! Ich lasse mir ganz bestimmt nicht jetzt, wo wir wenigstens einen kleinen Schritt vorangekommen sind, den Fall als erledigt oder geschlossen erklären! “
Zum Schluss seines Wortschwalls fügte er lautstark hinzu: „ Nur, weil Fingerabdrücke auf dem Skalpell gefunden wurden und irgendwelche Arschkriecher immer den bequemsten Weg gehen müssen, damit sie ihre Lorbeeren einfahren können!“
Er hatte sich in Rage geredet. Das wurde ihm klar, als er mit seinem Vortrag fertig war und er statt einer Reaktion seines Bosses nur ein leises Rauschen in der Leitung vernahm. Nach einigen Sekunden jedoch antwortete Burscheidt: „Nettgen, haben Sie noch mehr zu sagen? Ich denke, ich habe genug gehört und ich glaube, diese harten Worte reichen für Ihre gesamte Laufzeit! Finden Sie sich damit ab! Wir werden uns noch sprechen, wenn Sie sich wieder beruhigt haben! Schönen Tag noch! “
Mit diesen Worten legte Burscheidt auf.
Die Stunden vergingen. Nettgen hatte sich bemüht, sich zu beruhigen und an etwas anderes zu denken, aber diese Bemühungen waren nur bedingt erfolgreich. An Schlaf war gar nicht zu denken, obwohl er todmüde war. Nun versuchte er, sich abzulenken, räumte seine verstreuten Klamotten in die Schränke und stellte eine Liste der Dinge zusammen, die er noch einkaufen musste. Neben Zigaretten, Brot, Wurstaufschnitt und Bier notierte er sich noch Kaffee, Bananen und Kopfschmerzmittel. Den Zettel steckte er in seine Hosentasche.
Dann blieb er einfach stehen, rührte sich nicht von der Stelle. Er hatte plötzlich das Gefühl, als lauere jenseits dieser vier Wände um ihn herum eine Welt, die außer Zorn und Rückschlägen nichts für ihn bereithielt. Für Sekunden überkam ihn die Panik, den Rest seines Lebens als Junggeselle zu verbringen. Normalerweise verschwendete er keine Sekunde an diesen Gedanken, und selbst wenn, wäre es ihm wohl egal gewesen. Heute aber hätte er gerne jemanden zum Reden dagehabt. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Das musste an den vielen schlaflosen Nächten liegen. Seine Gedanken wanderten unbewusst, und es war, als stürmten die Erinnerungen an alle Ereignisse, die sein Leben geformt hatten, auf ihn ein. Er dachte daran, was er als junger Mann vorgehabt hatte. Er dachte an seine Ausbildung und an seine Träume und urplötzlich schoss ihm der Gedanke an Maria Crampton, an die Witwe des ersten Opfers, durch den Kopf. Er musste sich ehrlich eingestehen, dass sie ihm den Kopf verdreht hatte und ihm dieses starke Gefühl erst jetzt, nach all den mühseligen Ermittlungsarbeiten, so richtig bewusst wurde. Vorher hatte er auch keine Zeit gehabt, sich mit seinen Gefühlen zu beschäftigen. Aber er hatte keine Ahnung, warum er so intensiv für Maria Crampton empfand. Aus Angst, sich seinen Gefühlen zu stellen, dachte er lieber an die nutzlosen Ermittlungsarbeiten im Fall Crampton.
Die Melancholie, die urplötzlich von ihm Besitz ergriffen hatte, war wie weggefegt. So schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder. Stattdessen stieg der Ärger erneut in ihm auf. Das geringste falsche Wort hätte ihn jetzt gefährlich gereizt und auf die Palme gebracht. Er ging zum Sideboard, öffnete die rechte Schranktür und griff nach einer Flasche Whisky. Die Suche nach einem sauberen Glas blieb erfolglos, da er seit Tagen nicht mehr gespült hatte. Also setzte er die Flasche an, nahm einen kräftigen Schluck und stellte sie auf den Tisch. Als das Hochprozentige seinen Magen erreichte, schüttelte er den Kopf und verzog das Gesicht. Sein Rachen brannte, doch in seinem Magen machte sich nach und nach eine wohlige Wärme breit, bis er einem Lagerfeuer glich. Nettgen hustete.
Dann zog er sich die Kleider vom Leib, die er seit Tagen nicht gewechselt hatte. Er
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